Das Drama auf dem Platz der Freiheit

In Ägypten manifestiert sich die Macht der Internet-Generation

Seit Tagen demonstriert das Volk auf dem Tahrir Platz, dem Platz der Freiheit, im Zentrum der ägyptischen Hauptstadt. Hunderttausende von Demonstranten brüllen im Chor: "Mubarak raus, Mubarak raus, Mubarak raus!" Schlägertrupps des Diktators greifen mit Schlagstöcken, Messern und Molotow Cocktails an. Steine fliegen. Verwundete werden aus der Kampfzone geschleppt. Dazwischen Soldaten der ägyptischen Armee auf schweren Panzern. Werden Sie schießen oder nicht? Die Situation steht auf Messers Schneide.

Ich wähle eine Telefonnummer in Kairo. Beim dritten Anlauf komme ich durch. Am anderen Ende der Leitung ist Leila. Ich kenne sie aus der Zeit, als ich in Kairo lebte, als Nahost Korrespondent für die „Süddeutsche Zeitung“. Das war vor fast 50 Jahren. Damals war Leila eine Star-Journalistin. "Bist du o.k.? " frage ich meine alte Freundin. Und sie jubelt ins Telefon: "Ich bin o.k.! Ich bin sogar begeistert!“

Sie wohnt in einem feinen Wohnviertel auf der Nilinsel Samalik. Der Tahrir Platz ist nur einen Kilometer entfernt. "Wenn ich 50 Jahre jünger wäre, würde ich natürlich auf dem Platz sein und mitmachen", lacht sie.  Kairo ist in Aufruhr, aber in Leilas Gegend sind die Geschäfte geöffnet und es gibt genug Lebensmittel. "Meine Medikamente bestelle ich übers Telefon“, sagt sie „und die Apotheke schickt sie mir ins Haus".

Während wir miteinander telefonieren, verfolgen wir das Drama auf dem Tahrir Platz auf der Frequenz des arabischen Nachrichtensenders Al Dschasira. Wir sehen also die gleichen Bilder zur gleichen Zeit, und es kommt mir so vor, als säßen wir im gleichen Zimmer. So klein ist die Welt geworden!

Al Dschasira wirkt wie ein Turbolader auf die Energie des Aufstands. Der Nachrichtensender versorgt die Organisatoren der Demonstration rund um die Uhr mit wichtigen Informationen. So können sie im Fernsehen beobachten, wie angeschlagen das Regime des Diktators ist. Sie erfahren das Neueste aus den Hauptstädten der Welt, vor allem aus Washington. Dort sitzt Barack Obama, der Hoffnungsträger der jungen Generation, und weiß nicht, wofür er sich entscheiden soll: für sein Herz, das für die aufständischen jungen Menschen auf dem Tahrir Platz schlägt, oder für seinen Verstand, der sich nicht mit der jüdischen Lobby in Washington und den Bossen der Ölkonzerne anlegen will.

Die Organisatoren des Aufstands nutzen die Mikrofone und Kameras von Al Dschasira, um dem amerikanischen Präsidenten Mut zu machen. Er soll sich endlich entscheiden – aber Obama zögert. Und Millionen von jungen Al Dschasira- Fans zwischen Rabat und Damaskus sind maßlos enttäuscht von ihm.

Nach wenigen Tagen verwüsten Schergen des Regimes das Al Dschasira Büro in Kairo, verhaften die Reporter und Mitarbeiter des Nachrichtensenders und unterbinden seine Übertragungen. Aber Al Dschasira weicht sofort auf einen anderen Satelliten aus, filmt den Tahrir Platz mit versteckter Stand-Kamera und ist schon bald wieder auf Sendung.

Der Krieg um die Macht am Nil wird nicht mit scharfer Munition ausgetragen, sondern mit den Kameras und den Mikrofonen der internationalen Medien. Die Machthaber können es sich nicht leisten, den Aufstand des Volkes vor den Augen der Weltöffentlichkeit in einem Blutbad zu ertränken.

Es gibt in diesem ägyptischen Drama Aspekte, die über die Tagesaktualität hinausweisen. So hat zum Beispiel die Revolution auf dem Tahrir Platz durchaus das Potenzial, einen Flächenbrand im ganzen Nahen Osten auszulösen - mit unabsehbaren Folgen für den Rest der Welt, besonders für die Industrienationen mit ihrem unersättlichen Energiehunger.

Von Tunesien sprang der Funke auf Kairo über und schon brodelt es auch in Marokko, Jordanien und im Jemen. Die ganze Welt schaut jetzt auf Saudi-Arabien. Wenn der Funke des Aufstands auf das mittelalterlich regierte Königreich überspringen sollte, bräche die Hölle los. Denn unter dem Wüstenboden Saudi-Arabiens lagern fast drei Viertel der bekannten Erdölvorräte der Welt.

Neben Ägypten (unter Mubarak) und Israel gehört Saudi-Arabien zu den engsten Verbündeten Amerikas. In diesem Land wird eine Ehefrau, die sich einen Seitensprung leistet, öffentlich gesteinigt. Dieben wird die Hand abgehackt, Frauen dürfen kein Auto fahren, sich am Strand nicht im Badeanzug zeigen und ohne Erlaubnis ihres Ehemannes nicht verreisen. Ein seltsamer Bundesgenosse für Barack Obama

Die Imame der ultrakonservativen moslemischen Wahabiten-Sekte beherrschen die Moral und das öffentliche Leben dieses bizarren Wüstenstaates. Dabei reicht ihr Einfluss weit über die Landesgrenzen hinaus. Weltweit finanzieren und betreiben sie so genannte Madrasas, Koranschulen, in denen Tausende von jungen Moslems zu religiösen Fanatikern erzogen werden. Viele Selbstmordattentäter haben ihre prägenden Jahre in solchen Madrasas verbracht.

Der Machtkampf am Nil kann lange dauern und sein Ausgang ist ungewiss. Aber wenn in Ägypten nach fast 60 -jähriger Militärdiktatur ein demokratischer Rechtsstaat entstehen sollte, mit einem frei gewählten Parlament, unabhängigen Gerichten und Medien, wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Diktaturen der Scheichs, der Monarchen, der Prinzen und der Generäle in anderen arabischen Ländern zusammenbrechen. Ägypten ist das intellektuelle Zentrum im Nahen Osten. In Ägypten schlägt das kulturelle Herz der arabischen Welt.

Es wäre naiv, zu glauben, dass der letztlich unvermeidbare Übergang von mittelalterlichen Strukturen zur modernen Demokratie in geordneten Bahnen verlaufen würde. Wir müssen uns also auf turbulente Zeiten gefasst machen. Wenn der Ölpreis in die Höhe schnellt, könnte es durchaus zur nächsten Weltwirtschaftskrise kommen und unsere Komfortzone, in der wir es uns so gemütlich gemacht haben, könnte sich als Fata Morgana erweisen.

Ein paar unangenehme Fragen drängen sich auf: Warum haben wir die Augen zugemacht vor dem Elend der Menschen in Ägypten? Warum haben unsere Medien die Legitimation des Mubarak-Regimes nicht hinterfragt? Warum haben unsere Politiker diesen farblosen Diktator 30 Jahre lang wie eine Ikone staatsmännischer Weisheit und Größe behandelt? Warum haben die Freunde Israels nicht erkannt, dass die Sicherheit des jüdischen Staates auf den Bajonettspitzen einer arabischen Militärdiktatur schlecht aufgehoben ist? Wieso glauben wir überhaupt, dass wir die Ölquellen am Persischen Golf am besten dadurch schützen können, dass wir uns mit reaktionären Machthabern verbünden und sie mit modernsten Hightec-Waffen aufrüsten?

Es ist schon ein bisschen peinlich, zu beobachten, wie unsere rauschgifthafte Gier nach dem Öl unsere Moral korrumpiert und unser Gehirn lahmgelegt hat.

Was wir im Augenblick erleben, ist der Übergang von einer Epoche, in der politischer Einfluss vor allem auf militärischer Stärke beruhte, zu einer Epoche, in der das Internet weltweit Hunderten von Millionen vor allem junger Menschen die Möglichkeit bietet, sich unbegrenzt zu informieren, sich auszutauschen, politische Überzeugungen zu entwickeln, ihre Interessen zu bündeln und sie schließlich solidarisch und friedlich zu vertreten und durchzusetzen.

"Mubarak ist passee", sagt Leila am Telefon. "Der ist in einem anderen Zeitalter zuhause. Das geht jetzt gerade zu Ende. Das Internet hat dem Volk eine Stimme gegeben. Das lässt sich nicht mehr rückgängig machen."