Das Ego abbauen? Nein danke!

Wenn es ernst wird auf dem Weg zur Erleuchtung…

Charlotte van Stuijvenberg spricht mit Jörg Andrees Elten

Herr Elten, bitte stellen Sie sich unseren Lesern kurz vor. Wer sind Sie und was tun Sie?

Ich lebe seit 1998 nahe der Ostseeküste in Mecklenburg und habe hier mit Martina Kaltenbach das "Institut für Kreativität und Meditation" gegründet. Wir veranstalten Seminare, z. B. Kreatives Schreiben, Ausdrucksmalen, Freies Sprechen vor Publikum und Kamera, wobei wir immer diese beiden Komponenten Kreativität und Meditation miteinander verbinden. Außerdem machen wir auch Meditationsretreats und Meditationsausbildung für Menschen, die mit Menschen arbeiten.

Ursprünglich war ich Journalist. Als ich 49 Jahre alt war, begegnete ich auf der Insel Paros einem Freak, der mir etwas von Osho erzählte. Der hieß damals noch Bhagwan. Ich kann nicht erklären, wieso Osho mich sofort faszinierte. Es war ganz klar: Den muss ich unbedingt kennen lernen. So habe ich eine Indien-Dienstreise für einen Umweg nach Poona genutzt, um Osho in seinem Aschram zu besuchen.

Schon am ersten Tag wusste der Journalist in mir: Das ist eine ganz große Geschichte! Aber dann spürte ich auch, dass meine Begegnung mit Osho weit über das berufliche Interesse hinaus für mich ganz persönlich bedeutsam war. Ich besuchte jeden Morgen seine Vorträge und war stark beeindruckt. Ich merkte: Da sitzt ein ganz außergewöhnlicher Mensch - brilliant, hellwach und mit einem Blick, dem nichts verborgen bleibt. Er sprach frei und konnte die kompliziertesten Sachverhalte ganz einfach und in einer sehr erdigen Sprache erklären. Vor allem aber hatte er die Antworten auf die Fragen, die mich seit einiger Zeit immer dringlicher beschäftigten:  Wer bin ich überhaupt? Warum bin ich auf der Welt? Was ist Glück? Was ist Erfolg? Was ist der Sinn des Lebens? Ich entdeckte, dass ich ein spiritueller Sucher bin.

Während mein Herz Osho zuflog, ohne dass ich das gleich bemerkte, schlug mein Verstand Alarm: Ist dieser komische Meister, der die fünfzig Meter von seinem Haus zur Meditationshalle mit einem Luxusauto überbrückte, womöglich ein Scharlatan? Einer, der seine Schüler hypnotisiert? Aber nach ein paar Tagen lösten sich meine Zweifel auf, vor allem, weil die Menschen, die dieser Mann um sich geschart hatte, mir so gut gefielen: Sie waren durchweg intelligent, locker, witzig; vor allem waren sie verblüffend offen und ehrlich. Ich dachte: wer er von solchen Menschen umgeben ist, der kann kein Blender sein. Und so fasste ich Vertrauen.  Nach zwei Wochen ließ ich mich von Osho einweihen. Er gab mir den Sanskritnamen Satyananda - "wahre Seligkeit". Ein schöner Name, wie ich finde. Aber auch anspruchsvoll. Da stand ich also nun in ganz schön großen Schuhen da. Als ich mich von ihm verabschiedete, um nach Deutschland zurückzufliegen, sagte er: "Come back any time, this is your home." So einfach war das. Und ich wollte zurückkommen, um mich dauerhaft  in der Nähe dieses Mannes aufzuhalten, den ich als einen modernen Buddha erkannt hatte. Außerdem wollte ich über meine Erlebnisse und Erfahrungen in seinem Aschram ein Buch schreiben.

Ich brach die Brücken hinter mir ab und kehrte ein Jahr später nach Poona zurück, um in Oshos Aschram zu leben. Jetzt wurde es Ernst, denn nun ging es plötzlich um den Abbau des Ego. Ich war als verwöhnter Erfolgsjournalist in den Aschram eingeflogen und nach ein paar Wochen kam ich mir manchmal vor, wie ein Suppenhuhn. Nicht das kleinste Extrawürstchen konnte ich hier braten. Ich schlief mit zwei anderen Sannyasins auf acht Quadratmeter Wohnfläche, die Betten standen nur 20 Zentimeter auseinander - nicht einfach für einen wie mich, der es gewohnt war, in Nobelhotels zu wohnen. Kein Mensch interessierte sich für meine Meinung. Ich war ein Null-Faktor. Und musste lernen, mich als ein Nichts im Hier und Jetzt einfach des Lebens zu erfreuen. Gar nicht so einfach am Anfang. Im übrigen war das Experiment kein Leidenstrip. Ich befand mich in bester Gesellschaft und konnte auch herzlich über mich lachen. Und natürlich war mir stets bewusst, dass ich den Aschram jederzeit verlassen konnte, wenn ich keine Lust mehr hatte.

Jeden Tag schrieb ich an meinem Tagebuch, das später unter dem Titel "Ganz entspannt im Hier und Jetzt" buchstäblich Tausende von jungen Deutschen dazu gebracht hat, ein Ticket nach Indien zu kaufen, um den Mystiker von Poona zu besuchen. 99,9% fuhren auch wieder zurück, aber Osho wurde damals in Deutschland geradezu berühmt. Das Tagebuch schrieb sich wie von selbst. Ganz oft war es so, dass mir eine Frage durch den Kopf ging, die ich sehr wichtig fand, und dann ging ich in den morgendlichen Vortrag und Osho nahm die Frage auf und sprach genau über das Thema, das mich beschäftigte. Es war geradezu unheimlich, denn ich hatte ihm ja meine Frage gar nicht gestellt.

Später ging ich mit Osho nach Amerika und machte beim Aufbau der Rajneesh Kommune in Oregon mit. Das war eine dramatische Zeit. Von Anfang an lebten wir in einer abgelegenen Halbwüste im Krieg mit unseren Nachbarn. Das waren aggressive Rednecks, Landwirte, die heruntergekommene Einödhöfe bewirtschafteten und am Rande des Existenzminimums lebten. Wir bauten eine ökologische Land-Kommune auf, pflanzten 6 000 Obstbäume, bauten Straßen, bauten einen Staudamm und einen Flugplatz für die eigene kleine Fluggesellschaft, bauten eine Meditationshalle, in der 10 000 Menschen sitzen konnten, trennten unseren Müll, recycelten unsere Abwässer auf biologische Weise. Und während wir das alles taten, kämpften wir gegen die Behörden, die uns keine Baugenehmigungen erteilten. Osho lebte in dieser Zeit "in Silence". Er sprach nicht mehr. Die Geschäfte hatte er seiner Sekretärin Sheela überlassen, die in der Kommune nicht unumstritten war und viele Dummheiten machte, wie sich erst viel später herausstellte. Ich war oft ratlos auf der Ranch in Oregon. Erst als Osho aus den USA ausgewiesen worden war und seine Kommune unter dem Druck der Behörden zusammenbrach, habe ich begriffen, was es mit dieser Rajneeshkommune für eine Bewandtnis hatte: Sie war Osho's höchst originelle Mysterienschule. Er hatte immer gesagt, er wolle eine Mysterienschule aufbauen. Ich fand das ganz toll und dachte, dann zieht er sich mit 21 Schülern in den Himalaja zurück. Und ich bin natürlich dabei. Dort werden wir sitzen und ohne Unterbrechung meditieren und erleuchtet werden. Stattdessen verschlug es mich in diese karge  Semiwüste zu den Rednecks, die jeden Tag von fundamentalistischen christlichen Wanderpredigern  gegen uns "rote Teufel" aufgehetzt wurden.
Um zu verstehen, was damals in Oregon abging, muss man wissen, wie ein spiritueller Meister arbeitet. In unserem christlichen Kulturkreis ist weithin unbekannt, was ein spiritueller Meister ist. Wir kennen den Priester, den Propheten, den Heiligen. Sie unterscheiden zwischen Gut und Böse, zwischen Sünde und Tugend. Sie predigen Moral und drohen mit der Hölle. Ein Meister kennt keine Moral, und keine Gebote. Er appelliert an das Bewusstsein. Ein Meister ist nicht einer, der dir sagt, was gut und was böse ist, oder was du tun oder lassen sollst. Er stellt immer und immer wieder  Situationen her, in denen du Erfahrungen mit dir selbst machen kannst. Er dient dir als Spiegel, in dem du dein wahres Gesicht sehen kannst. Deine Angst, deine Gier, deine Feigheit und so weiter und so fort. Deshalb gehört ein bisschen Mut dazu, sich auf einen Meister einzulassen. Seine Liebe ist schmerzhaft, seine Methode riskant.
 
In Amerika hat Osho in einer atemberaubenden Größenordnung und mit einer unglaublichen Phantasie Situationen hergestellt, in denen jeder, der dabei war, hochinteressante Erfahrungen mit sich selbst machen konnte. In 14 Stunden-Schichten, sieben Tage in der Woche, haben wir eine richtige Stadt aufgebaut. Es gab einen Bürgermeister, es gab einen Polizeichef. Jeder Chef- Positionen wurde grundsätzlich mit durchgeknallten Typen besetzt - übrigens waren es durchweg Frauen. Das war hochinteressant. Nur Frauen! Was sollte das eigentlich? Sie waren genau die Richtigen, um uns dauernd die Knöpfe zu drücken und auf unseren Egos herumzutrampeln. Folglich gab es sehr, sehr viel Reibung - und genau das war beabsichtigt. Ein großes Experiment - auch für die Frauen, die da plötzlich Verantwortung tragen mussten. Und ganz nebenbei stellte sich natürlich auch heraus, dass Frauen genau so machtbesessen, ehrgeizig, aggressiv und dumm sind wie Männer, wenn sie an die Schalthebel kommen. Das Experiment von Oregon konnte nicht auf Dauer gut gehen. Das war auch gar nicht beabsichtigt. Die Kommune war ein spiritueller Durchlauferhitzer, den Osho so heiß laufen ließ, dass er schließlich durchknallte. Wir dachten damals, dass wir im Begriff waren, die spirituelle Musterkommune des 21. Jahrhunderts aufzubauen. Dabei ging es immer nur darum, ins offene Messer unserer Unbewusstheit zu laufen. Jeder, der an diesem Experiment beteiligt war, hat tiefgreifende Einsichten über sich selbst gewonnen. Aus heutiger Sicht kann ich sagen: es war ein Geschenk. Die Kommune in Oregon war das größte und aufregendste Human Growth Experiment, das es je gegeben hat.

Die Kommune löste sich damals auf, Teile davon haben sich dann in Poona für eine zweite Runde wieder gefunden, im Kommunejargon nennt man es "Poona 2". Ich bin jetzt nicht mehr dabei, aber mit Osho bin ich auch nach seinem Tod eng verbunden geblieben. Jetzt ist für mich die Zeit, das, was ich in der Arbeit mit diesem Mystiker begriffen habe, sozusagen auf dem Marktplatz des Lebens umzusetzen.

Sie haben jetzt diese Kommune von Osho beschrieben, die Sie geprägt hat, in der Sie gelernt und Erfahrungen gemacht haben - was empfinden Sie im Nachhinein als Vorteil einer solchen Kommune und was eher als Nachteil?

Ich glaube, dass die Kommune die Form des menschlichen Zusammenlebens in der post-industriellen Welt sein wird. Die Großfamilie ist tot. Sie basierte auf der landwirtschaftlichen Arbeitsteilung in der Agrargesellschaft. Jedes Familienmitglied hatte seine Funktion. Danach hatten wir die bürgerliche Familie mit vier, fünf Kindern und die proletarische Mehrkinderfamilie. Es gab noch keine Verhütungsmittel, das Elend in den überfüllten Mietskasernen der Arbeiter in der Frühzeit des Kapitalismus war unbeschreiblich. Die Emanzipation des Proletariats und die Pille leitete den Übergang zur Kleinfamilie ein - Ehepaar mit ein bis zwei Kindern in den Appartmentblocks der Großstädte und den Einfamilienhaus-Siedlungen am Stadtrand. Die Kleinfamilie entwickelte sich zur Brutstätte vielfältiger Neurosen. Heute wird schon fast jede  zweite Ehe geschieden und nahezu jede zweite Mutter ist allein erziehend. Das sind Signale, die uns zeigen, dass die Kleinfamilie auch zur Vergangenheit gehört. Ich glaube nicht, dass sie noch gerettet werden kann. Auch nicht mit Kindergeld, also nicht auf finanziellem Wege.

Die Kommune ist die Alternative, weil sie uns erlaubt, mit viel weniger Geld eine sehr viel bessere Lebensqualität zu erzielen. Wir teilen uns ganz viel. Man kann sich die Autos teilen - die fixen Kosten werden sehr viel geringer. Man kann die Kinder gemeinsam erziehen. Man kann biologische Landwirtschaft betreiben und Qualitätslebensmittel produzieren. Das allein könnte Hunderttausende von Arbeitsplätzen in einem gesunden Umfeld schaffen. In einer ländlichen Kommune bleibt die Zeit nicht stehen - sie ist durch die moderne Kommunikationstechnologie global vernetzt. So kann sie auch an  DSL- vernetzten Computern Arbeitsplätze schaffen, die früher nur in städtischen Bürotürmen vorstellbar waren. Ich selber wohne in einem abgelegenen Dorf. Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich bis zum Horizont kein Haus. Aber wenn ich meinen Computer einschalte, bin ich mit der ganzen Welt verbunden. Hole mir Informationen aus der Bibliothek der Stanford-University und aus dem Archiv der New York Times, korrespondiere in Echtzeit mit Menschen auf anderen Kontinenten. Die Landkommune hat also als Arbeitsplatz ein unglaublich vielfältiges Potential. Allerdings kann sie aus meiner Sicht nur funktionieren, wenn ihre Mitlieder auf einer spirituellen Ebene verbunden sind und eine gemeinsame Weltanschauung haben.  Anders gesagt: in einer funktionierenden Kommune darf das Ego des Einzelnen keine Rolle spielen.

Ein gemeinsames Ideal?

Ja! Leben mit der Natur zum Beispiel. Die Natur pflegen, anstatt sie auszubeuten. Im Umgang miteinander offen sein, mehr zuhören, als selber reden. In Konfliktsituationen erst mal schauen: Was ist mein Anteil daran? All diese Dinge können sich in der Kommune viel besser entfalten, als in einem Singlehaushalt. Im Zusammenleben mit vielen Freunden kann jeder der Spiegel des anderen sein. Und wenn alle gemeinsam miteinander meditieren, kann das Bewusstsein auf Höhenflug gehen. 

Und die Nachteile?

Wie überall - das momentane Niveau des menschlichen Bewusstseins. Die Oregon-Kommune hat deutlich die Auswüchse gezeigt, die entstehen können, wenn man unbewussten Menschen Macht in die Hände gibt. Wenn dann noch die Angst vor einem "äußeren" Feind geschürt wird… bei den Nazis waren es "die Juden", heutzutage sind es "die Terroristen", dann entsteht Verwirrung und die Bereitschaft, die eigene Verantwortung abzugeben. Auf der Ranch in Oregon waren die fundamentalistischen Christen der Feind, die Evangelisten, die im heutigen Amerika der Bush-Regierung als stärkste Machtsäule dienen. Die haben das ganze Umfeld gegen die Osho-Ranch mobilisiert. Da fuhr eines Tages ein Konvoi von offenen Kleinlastern im Schritttempo durch die Ranch. Auf jedem Pickup-Truck saßen fünf, sechs Leute mit Maschinenpistolen auf den Knien. Sie wollten uns mal zeigen, dass sie nur auf die Gelegenheit warteten, um gegen uns loszuschlagen. Mit diesen grimmigen Herrschaften war nicht gut Kirschen essen. Die sahen aus wie Killer-Typen aus einem Western Film. Politisch war es so, dass die für uns zuständige Kreisverwaltung keine Baugenehmigungen für die Ranch ausstellte. Und wir dachten, dass wir uns darüber hinwegsetzen sollten, weil wir doch die Muster-Kommune für das 21. Jahrhundert aufbauen wollten. Die Kommuneleitung hat sich auf ungute Weise in das Thema hineingesteigert, hat Grenzen überschritten, die in die Illegalität führten. Damit waren die Weichen gestellt für den Untergang der Kommune.

Ich mache jetzt einen Bogen zurück zur Bewusstseinsentwicklung. Sie sprechen ja auch in einem Ihrer Artikel, "Transzendenz des Egos", darüber. Was genau ist die Transzendenz des Egos, der Persönlichkeit?

Ich will es mal praktisch sagen: Wenn ich mich beharrlich darum bemühe, nicht immer meinen eigenen Vorteil durchzusetzen, wenn ich das eigene Interesse immer wieder herunterfahre und in Konfliktsituationen darauf achte, was ich selber falsch gemacht habe, wenn ich versuche, sensibler zu werden, aufmerksamer, wacher, liebevoller - wenn ich diese Bemühung langfristig, notfalls über viele Jahre hinweg durchhalte, wird das Ego langsam schwächer. Hinzu kommt die Meditation. Wenn ich in der Meditation existenziell erfahre, dass ich nicht von der Natur, vom Ganzen, von Gott  getrennt bin, dass die Existenz mich trägt, so wie jedes andere Lebewesen auch, dann kann ich langsam Angst abbauen und Vertrauen aufbauen. Damit entziehe ich dem Ego den Boden. Und da ist ein großes Gefühl der Befreiung. Ich vertraue und die Dinge entwickeln sich ganz von selbst. Ich vertraue dem Leben, ich vertraue meinem Schicksal und so können auch aus so genannten Schicksalsschlägen Wachstumschancen werden. Ich lerne die Kunst, die Dinge geschehen zu lassen, anstatt mich pausenlos einzumischen, etwas zu wollen, zu bewirken, zu planen, umzusetzen, durchzusetzen, zu erkämpfen. Diese Mentalität ist an den leidvollen Ereignissen unserer Zeit maßgeblich beteiligt. Es reicht freilich nicht, interessante Bücher zu lesen und mich über die Tücken des Egos zu informieren. Die gewonnen Einsichten müssen auch tatsächlich umgesetzt werden. Das ist das Problem, an dem leider viele Menschen scheitern. Ich kenne viele Menschen, die unglaublich viel aufschlussreiche, gute Literatur gelesen haben, die spirituell sozusagen up-to-date sind und überall mitreden können… aber das Ego abbauen? Manche entwickeln plötzlich ein spirituelles Ego und wollen auf dem Esoterik-Markt ganz oben mitmischen. Sie können sich selbst und den Menschen nicht helfen und leider bringen sie die ganze Esoterik in Verruf. Das Einzige, was zählt, ist das Sein. Je mehr ich das Ego abbaue, desto größer wird das spezifische Gewicht des Seins und desto größer wird auch die Anziehungs- und Überzeugungskraft. Ich bin einfach so, wie ich bin - kein Ego, keine Masken, kein Ehrgeiz.

Das ist interessant: Sie sagen, dass die meisten Menschen halt machen, wenn der Moment kommt, das Ego zu transformieren.

Ja, das mit dem Ego ist die Kernfrage. Ich erlebe das immer wieder. Wir machen Meditationsausbildung für Leute, die Meditation weitergeben. Ich warne immer: "Kinder, glaubt bloß nicht, dass ihr auf einer höheren Bewusstseinsebene angekommen seid, bloß weil ihr jetzt wisst, wie man eine Meditation anleitet. Hütet euch vor eurem Ego. Das Ego redet euch gerne ein, dass ihr das spirituelle Niveau eines Meisters längst erreicht habt und deshalb ohne weiteres den Guru geben könnt. Seid vorsichtig und geduldig."

Ist es eine besondere Zeiterscheinung, dass viele sich zum Guru machen wollen?

Viele Menschen haben ein großes Bedürfnis, Menschen zu folgen, die selbstsicher auftreten und Weisheiten verbreiten. Aus meiner Sicht gibt es ein großes Anhimmelungsbedürfnis, das sich mit der Sehnsucht nach einer Welt verbindet, die nicht total vom Materialismus beherrscht wird.  Es gibt also ein großes Publikum für spirituelle Scharlatane. Das Einzige, was man zum Guru braucht, sind Jünger, die sich zu seinen Füssen niederlassen und zu ihm aufblicken. Und an denen fehlt es nicht.

Noch eine Frage zu den Gewohnheiten. Wenn wir Bewusstsein entwickeln, dann geht es auch darum, unsere Gewohnheiten zu durchbrechen. Alle spirituellen Meister sprechen ja von Achtsamkeit oder auch von Selbsterinnerung, um diese Gewohnheiten zu durchbrechen. Wie handhaben Sie das heute? Wie funktionieren diese Möglichkeiten?

Ich nenne es mal De- Automatisierung. Ich benutze diesen Ausdruck sehr gerne, weil wir alle wie Automaten durch die Gegend laufen. Das ist kein Vorwurf.  Unsere Lebensweise in unserer  hochgezüchteten Zivilisation bringt es mit sich, dass wir viele Dinge ganz automatisch tun. Nehmen Sie bloß mal das Autofahren: Sie schalten und wechseln die Gänge ganz automatisch. Hoffentlich halten Sie auch  ganz automatisch bei Rot an und fahren bei Grün weiter. Das sind alles Prozesse, die unbewusst laufen, und so kann es den ganzen Tag weiter gehen. Sie greifen jeden Morgen mit der gleichen Hand in die gleiche Richtung zur Zahnbürste. Sie setzen den Teetopf auf. Das sind alles Handlungen, die standardisiert sind, unbewusst sind, und während wir unbewusst aktiv sind mit allen möglichen Routinearbeiten, sind wir mit den Gedanken immer ganz woanders, das heißt wir sind nicht im Hier und Jetzt. George Gurdjieff nannte es "wir sind nicht zu Hause".  Die Herausforderung besteht darin, den ganzen Tag über "zu Hause" zu sein, bei mir, bei dem, was ich in jedem einzelnen Augenblick tue. Im Hier und Jetzt gibt es keine Automatik, sondern nur wache Bewusstheit. So wie wir beide in diesem Gespräch präsent sind, in diesem Augenblick, in diesem Raum, sollten wir den ganzen Tag über wach sein und lebendig im Hier und Jetzt. Keine Abschweifung. Das ist natürlich gar nicht so einfach. Wenn wir dran bleiben wollen, brauchen wir viel Geduld und Disziplin.  Aber ohne De-Automatisierung gibt es keine Bewusstseinsentwicklung und auch keine Kreativität. Der Schlüssel zum Kreativ-Sein ist, die Dinge anders zu machen, als ich es gewohnt bin - immer wieder, immer wieder. Das schafft den Spielraum für Neues, für neue Ansätze, für neue Ideen, für neue Impulse. Den Freiraum, in dem Kreativität wächst und gedeiht, kann ich nur schafften, indem ich mich de-automatisiere.

Sie sprechen ja auch vom Autopiloten des Egos. Manchmal ist dieser wohl nützlich, aber wo? Und wo hindert er uns?

Im Segelboot kann ich mit dem Wind arbeiten. Ich gucke, wo der Wind herkommt, stelle mich auf ihn ein und halte Kurs mit dem Kompass. Ich kann aber auch den Autopiloten programmieren. Dann lehne ich mich zurück, gönne mir ein Schläfchen, denke an dies und an das und wenn ich schließlich  überhaupt dort ankomme, wo ich hin will, dann komme ich genauso unbewusst an, wie ich losgefahren bin. Das kann nicht unser Ziel sein. Wenn ich das Leben als einen Lernprozess begreife - und das tue ich - dann kann es nicht sein, dass ich mich ständig mit eingeschaltetem Autopiloten durchs Leben bewege. Das bringt mich nicht weiter. Das machen die meisten Macher. Sie machen im Wesentlichen das, was in der Vergangenheit Erfolg brachte, und manchmal ist das dann der größte Blödsinn, weil die Welt nicht stehen bleibt und unter veränderten Bedingungen völlig andere Entscheidungen nötig sind. Ich kann der intelligenteste Mensch sein - und trotzdem total unbewusst. Auf Autopilot. Meine gesamte Intelligenz ist kanalisiert auf irgendetwas und wird überhaupt nicht vom Bewusstsein gesteuert oder kontrolliert. Das größte Unheil in der Welt, wird oft von den intelligentesten Menschen angerichtet. Intellektualität plus Unbewusstheit ist eine verheerende Mixtur. Das Ego, das aufs engste mit dem Verstand verbunden ist, kann nur sinnvoll und kreativ wirken, wenn es von einem wachen Bewusstsein kontrolliert wird. Das ist unser größtes  Problem und die größte Herausforderung unserer Epoche. Denn bisher haben wir es dort, wo die Weichen gestellt werden in Wirtschaft und Politik, vor allem mit Machern zu tun, deren Bewusstsein auf Null steht.

Sie sprechen davon, dass jeder Einzelne die Initiative ergreifen muss, sein Bewusstsein zu entwickeln. Wie definieren Sie Eigeninitiative, und was gibt es heute, gerade für die jüngere Generation, für Möglichkeiten?

Was die Jungen betrifft, so sollten sie sich erst mal ruhig austoben, ihr Ego aufblähen, Karriere machen, ordentlich Geld verdienen, am Sex Spaß haben, Luxus und Erfolg genießen. Wenn sie das (jetzt werde ich etwas esoterisch) nicht schon in einer früheren Inkarnation hinter sich gebracht haben und spirituell sozusagen bei Null anfangen, brauchen sie das. Denn zur spirituellen Entwicklung gehört die Erfahrung, dass materieller Erfolg nicht glücklich macht, und schließlich kann ich ein Ego nur abbauen, wenn ich es erst mal aufgebaut habe. Diejenigen, die es in ihrem Leben nie zu etwas gebracht haben, denen die Antriebsenergie fehlte, um irgendetwas auf die Beine zu stellen, die werden es auch schwer haben mit der Arbeit an sich selber. Das ist einfach so.

Aber vielleicht begünstigen die gegenwärtigen Verhältnisse die Hinwendung zur Spiritualität auch bei Menschen, die jünger sind als 45 und die noch nicht in der Midlife Crisis stecken. Die jungen Leute haben's unglaublich schwer in einer Gesellschaft wie der unseren, die so hundertprozentig materialistisch ist. Viele Jungakademiker sind arbeitslos. Die Zukunftsaussichten sind nicht rosig. Was ist der Sinn des Lebens in einer Welt, die so schrill, so hektisch, so konsumorientiert, so gewalttätig und oberflächlich ist? Die Frage beschäftigt immer mehr junge Menschen. Es gibt die Sehnsucht nach Zielen, die über das eigene Interesse  hinausgehen, die Sehnsucht nach Idealismus und nach Erfüllung. Ich denke, dass wir gerade eine Renaissance der Religiosität erleben, besonders auch bei jungen Menschen. Viele sind auf der Suche. Nicht wenige wenden sich wieder oder auch zum ersten Mal der Kirche zu. Viele entdecken die Meditation. Wohin schließlich die Reise geht, kann man schwer sagen. Es kann unter dem Eindruck der Bedrohung durch den islamischen Fundamentalismus auch zu einem christlichen Fundamentalismus kommen - so wie in Amerika. Ich hoffe es nicht.  Ich hoffe, dass wir in der Meditation das Göttliche in uns selbst erkennen und unser Getrenntsein in bewusster und eigenverantwortlicher Arbeit an uns selbst überwinden. Die Kommune wäre für diese Arbeit der richtige Ort - besonders für junge Menschen.

Aber noch ist es nicht so weit. Es muss wahrscheinlich nach dem Tao-Prinzip noch viel schlechter kommen, bevor es besser werden kann. Wir sind noch nicht an dem Punkt angelangt, wo die Dinge so katastrophal sind, dass das Pendel zur andern Seite ausschlagen muss. Es geht uns noch sehr, sehr gut. Es wird uns nicht ewig so gut gehen. Der Tiefpunkt wird in ein paar Jahren erreicht sein. Wir sollten uns davor nicht fürchten, sondern uns innerlich darauf vorbereiten. Wir sollten uns sogar auf die Herausforderung freuen, die uns zwingt, kreativ, wach und spontan zu sein. Die uns zwingt, neue Lebensformen zu entwickeln und mit der Natur und anderen Menschen freundlicher umzugehen. Wenn es so weit ist, werden wir lebendiger werden und das Leben wird wieder Spaß machen.

Jeder Mensch, der auf seiner Ebene seine Arbeit tut, sollte in unserer Gesellschaft davon leben können.

Diese Frage stellt sich eben in der Kommune gar nicht, weil da jeder sein Auskommen hat. Das ist überhaupt kein Thema, keiner fällt aus dem Raster. Jeder verdient das gleiche. Da werden keine Karrieren gemacht, da gibt's keinen Aufstieg nach oben, da gibt's keine Angst vor Absturz. Da gibt es Solidarität, Zusammenarbeit, Spaß. - Das sehe ich so kommen.

Aber es funktioniert wirklich nur, wenn die Menschen bewusster werden.

Ja, es hat etwas mit Ego-Abbau zu tun. Eine Kommune kann nicht funktionieren, wenn die Leute alle ihre Egos profilieren wollen. Dann sind sie in der Kommune fehl am Platz.

Was ist für einen Menschen auf dem Weg der Bewusstseinsentwicklung das Allerwichtigste?

Sich selbst nicht so wichtig nehmen. Das Ego und die Mechanismen des Verstandes, die mit dem Ego ganz eng zusammenhängen, immer wieder beobachten. Jeden Tag beobachten, wie dieser Mechanismus funktioniert und ihn langsam, langsam beherrschen lernen, anstatt von ihm beherrscht zu werden. Das ist der Weg.

Würden Sie sagen, dass dies auch der Kern ist von dem, was Sie aus Ihren Erfahrungen mit Oshos Schulung genommen haben.

Osho hat mir mal den Rat gegeben: "Do less - be more!" Der Akzent ist nicht auf dem Aktivismus, auf dem Ehrgeiz, auf Zielorientiertheit. Es geht darum, einen Kern zu bilden, sich zu kristallisieren, das  spezifische Gewicht des eigenen Seins zu erhöhen. Das heißt praktisch: Weniger Theorie und mehr persönliche Erfahrung. Ich habe im Leben überhaupt nichts dazu gelernt, wenn's mir gut ging. Wenn ich oben war und mich im Erfolg sonnte. Ich habe immer nur dazugelernt, wenn's mir schlecht gegangen ist, wenn ich Mist gebaut hatte und im Keller saß.  Wenn's uns toll geht, sind wir nicht so offen für Veränderungen. Wir wollen nichts verändern, sondern unser Glück fest halten. Und so  verschiebt sich die Energie darauf, den Status quo zu halten. Und das ist natürlich der falsche Weg.

Die moderne Gehirnforschung hat übrigens herausgefunden, dass das menschliche Gehirn bis ins hohe Alter hinein neue neuronale Vernetzungen bilden kann - allerdings nur, wenn wir immer wieder neue Herausforderungen annehmen, immer wieder in Frage stellen, was wir machen, immer wieder Neues sehen, immer wieder experimentieren, Neues wagen, Altes loslassen. Das heißt, die Art und Weise, wie wir das Gehirn benutzen, entscheidet darüber, ob es sich weiterentwickelt oder nicht.

Herr Elten, ich danke Ihnen herzlich für das interessante and anregende Gespräch.

(erschienen im Dezemberheft 2006 des Schweizer Magazins "Lichtwelle - Spiritualität und Bewusstsein")