Ein Geburtstagsspaziergang

Gedanken über das Altwerden und die Endlichkeit

An meinem Geburtstag beschließe ich, abzutauchen, bevor die Gratulanten auf der Matte stehen. Ich stehe im Morgengrauen auf und stelle das Telefon auf Anrufbeantworter. Noch vor 8:00 Uhr will ich aus dem Haus verschwinden.

83 Jahre liegen hinter mir. Gar nicht so schlecht, wenn ich bedenke, dass es in meinem Leben viele Momente gab, in denen es so aussah, als sollte ich keine Sekunde länger am Leben bleiben. Im Zweiten Weltkrieg zum Beispiel und später als ich als Reporter in Kriegseinsätzen unterwegs war.

Der Geburtstag beginnt wie jeder andereTag: Katzen füttern, Espresso trinken, 20 Minuten Yogastretching, zehn Minuten in die Pedale des Ergometers treten - bei 100 Watt Belastung. Viel mehr ist nicht mehr drin. Vor drei Jahren habe ich noch mühelos 150 Watt getreten. Aber Dietmar, mein Kardiologe behauptet: „Trotz deiner Herzrhythmusstörung bist du erstaunlich fit“.

Während die Leistungsfähigkeit nachlässt, wird die Beziehung zum Körper intensiver. Manchmal, wenn er eine Betriebsstörung signalisiert, bitte ich ihn: „Hallo, mein Lieber, kannst du die Schmerzen vielleicht ein bisschen herunterfahren?“. Und dann antwortet er: „He, stell dich doch nicht so an!“ Wir kommen gut miteinander aus, aber manchmal schmerzt es mich, dass ich körperlich nicht mehr so fit drauf bin wie früher.

Zum Beispiel, wenn ich es Gitama überlassen muss, einen schweren Koffer ins Auto zu wuchten. Oder wenn ich beim Fußballspielen mit meinem neunjährigen Enkel Livio nach fünf Minuten um Auswechslung bitten muss.

Vor allem brauche ich Geduld. Geduld im Umgang mit meinem Körper und Geduld mit den Menschen, die mir gut gemeinte Ratschläge geben. Oft beginnen sie mit dem Satz: „Kapier doch endlich mal, dass du nicht mehr dreißig bist…“ Als wenn ich das nicht wüsste! Neulich ist es mir passiert, dass ein junges Mädchen in der U-Bahn aufstand, um mir seinen Platz anzubieten.

Kurz vor acht verlasse ich das Haus. Fünfzehn Minuten dauert die Fahrt zu meinem Lieblingsstrand. Die Sonne steht noch schräg am wolkenlosen Himmel. Die Steilküste wirft lange Schatten über das Wasser. Windstille. Das Meer ist ganz ruhig. Vorsichtig taste ich mich über einen schlüpfrigen Pfad nach unten. Zur Linken rauscht ein kräftiger Bach und bricht sich auf dem Weg in die Tiefe an mächtig aufgetürmten Steinquadern. Die Tropfen blitzen im Morgenlicht, wie die Funken einer Wunderkerze. Und da ist das hypnotisierende Rauschen des schnell fließenden Wassers. „Es ist wie die Zeit“, denke ich. „Sie fließt und fließt und keiner kann sie aufhalten…“

Ich schließe die Augen und atme tief durch. Plötzlich das Gefühl einer grenzenlosen, hellen, befreienden Leichtigkeit. Sieht der Tod so aus? Ja, so wird es sein, wenn die Reise zum anderen Ufer beginnt!

Auf dem Spaziergang am Strand ist mir der Tod ein freundlicher Begleiter. Wie lange wird es wohI noch dauern, bis ich in seine Arme sinke? Und wie wird das Ende aussehen? Als ich daran denke, kommt mir eine E-Mail von Sophie in den Sinn, einer Freundin aus Düsseldorf. Sie erzählt, was sie erlebt hat, als sie ihren an Alzheimer erkrankten 85-jährigen Vater in der gerontopsychiatrischen Abteilung einer angesehenen Klinik besuchte.

„Er ist so verkrampft“, schreibt Sonja, „dass er in der Sitzposition bleibt, auch wenn das Bett zur Liege umgeklappt wird. Dann drücken ihn die Schwestern und Pfleger mit ihrem ganzen Körpergewicht nach hinten. Er schreit aus vollem Hals, aber sie lassen nicht locker, bis auch sein Kopf auf dem Kissen ist. Dann wird er ans Bett gefesselt. In Rückenlage. Aber seit ewigen Zeiten ist er daran gewöhnt, in Seitenlage zu schlafen. Also schläft er nicht“.

Der alte Herr wird gefesselt, seitdem er eines Nachts aufgestanden ist und nicht nur in sein eigenes Bett gepinkelt hat, sondern auch in das seines Nachbarn. „Auf jede ruppige Berührung reagiert er empfindlich“, schreibt Sonja. „Wenn sie ihn rasieren, schreit er, aber sie halten ihn fest und rasieren weiter, bis sie fertig sind - und lachen, als sie mir davon erzählen“.

Sonja macht dem Personal keine Vorwürfe: „Die Schwestern und die Pfleger sind auch nur Menschen, und sie tun, was sie können. Stundenlang sitzen sie vor dem PC, füllen Formulare aus und schreiben Berichte für die Krankenversicherungen. Die Patienten haben sie derweil auf dem Flur abgestellt - in gesicherten Rollstühlen, aus denen sie nicht entrinnen können. Dort sitzen sie und starren stumm vor sich hin.“

Ich möchte nicht erleben, was Sonjas Vater widerfährt, der nur zwei Jahre älter ist als ich. Oder dass es mir so ergeht, wie meinem Freund Jan, der mit Tatü-tata und Blaulicht und hundert Sachen in die Notaufnahme gebracht wurde. Schlaganfall. Aber natürlich haben sie ihn durchgebracht. Jetzt kann er kaum noch sprechen und krallt sich an einem dreirädrigen Lauf-Gestell fest, damit er sich nicht die Knochen bricht, wenn er in seinem Haus unterwegs ist. Dabei ist er im Kopf völlig klar.

Es ist nicht der Tod, den wir fürchten müssen. Es sind die Auswüchse eines hochmodernen medizinischen Versorgungssystems. Die Hightechmedizin hilft vielen Menschen und verlängert das Leben, aber sie produziert dabei auch Hunderttausende, wenn nicht gar Millionen, von greisen Pflegepatienten, die halbtot und schlecht versorgt in Heimen dahindämmern. Das reißt natürlich riesige Löcher in die Budgets der Kassen.

Jeder, der sich unvoreingenommen mit unserem Gesundheitssystem beschäftigt, kommt unweigerlich zu der Erkenntnis, dass es eher früher als später zusammenkrachen wird, weil es in seiner jetzigen Form einfach nicht bezahlbar ist. Der Fortschritt der Hightechmedizin geht weiter und damit auch ihre Nebenwirkungen. Also muss bei den Patienten gespart werden, die sich daran gewöhnt haben, die Verantwortung für ihre Gesundheit auf die Krankenkassen abzuschieben. Millionen von Menschen trinken zu viel, rauchen zu viel, bewegen sich nicht genug, ernähren sich falsch, werfen Drogen ein und verlassen sich darauf, dass die Kasse die Reparaturkosten für ihre geschundenen Körper übernimmt.

In einer Zeit, in der sich alle Sicherheiten auflösen, stellen sich immer mehr Menschen darauf ein, dass sie bereit sein müssen, jederzeit den Beruf und ihren Wohnort zu wechseln, ihre Altersversorgung zu planen und so weiter und so fort. Ich halte das für eine positive Entwicklung und bin deswegen auch dafür, dass wir nicht ständig mit kleinen Wehwechen zum Arzt rennen.

Nur wenn sich Millionen von Menschen bewusst werden, dass ihr Anspruch auf eine medizinische Versorgung nur dann gerechtfertigt ist, wenn sie selber die Energie und Disziplin für eine gesunde Lebensführung aufbringen, kann ein modernes Gesundheitswesen auf hohem Niveau funktionieren.

A propos Eigenverantwortung: ich unterstütze die Ärztin Petra De Jong, die Direktorin der Niederländischen Vereinigung für ein freiwilliges Lebensende. Sie kämpft dafür, dass alle Menschen über 70 das Recht erhalten, mithilfe der „Sterbepille“ freiwillig aus dem Leben zu scheiden - egal, ob sie krank sind oder nicht. Wie die „Süddeutsche Zeitung“ berichtet, hat ihre Organisation inzwischen mehr als 110.000 Mitglieder. In einer Umfrage haben 70 % der Niederländer die Letzte-Wille-Pille für Menschen im Alter von über 70 Jahren befürwortet. Daraufhin hat Frau Dr. De Jong eine Unterschriftenaktion für ein Volksbegehren gestartet und bisher das Dreifache an Unterschriften eingesammelt, die notwendig sind, damit das niederländische Parlament das Thema auf die Tagesordnung setzt.

Die Kirchen und alle, die mit der Gesundheitsindustrie viel Geld verdienen, sind natürlich gegen die Sterbepille. Aber ich sehe nicht ein, warum der eigenverantwortliche mündige Bürger nicht das Recht haben sollte, sich ein unwürdiges Ende in einem Pflegeheim zu ersparen und sein Leben so zu beenden, wie er es für richtig hält.

Irgendwann wird die Sterbepille legalisiert und zwar aus wirtschaftlichen Gründen. Darauf möchte ich nicht warten. Während ich am Ostseestrand sitze und auf das Licht sprühende Meer schaue, wünsche ich mir für meinen 84. Geburtstag die Sterbepille als Geburtstagsgeschenk. Irgendwie wird sie zu mir kommen, und ich werde sie in einer hübschen Silberdose im Regal aufbewahren - just in case… Wenn ich sie brauchen sollte, wird die Existenz mir das Signal geben, meine Inkarnation im Kreise lieber Freunde fröhlich zu beenden.