Einsichten am offenen Herzen

Die High-Tech Medizin bleibt nur bezahlbar, wenn die Patienten sich ändern. Und die Ärzte mit den Heilpraktikern harmonisch zusammenarbeiten.

Bis jetzt war die Situation entspannt gewesen. Aber plötzlich war dicke Luft. Ich lag auf dem Operationstisch in einem Herzkatheter-Zentrum. Vor einer halben Stunde hatte mir Jens, der behandelnde Kardiologe, einen kleinen Schnitt in der Leiste gemacht und einen dünnen Schlauch durch die Vene nach oben zum Herzen geschoben.
Das komplizierte Manöver wurde von einer gewaltigen Röntgenkamera gefilmt, die Jens per Fernsteuerung bewegte. Er trug einen schwarzen Schutzanzug. Der Raum war abgedunkelt. Nur der Monitor, auf dem ich das Operationsgeschehen beobachten konnte, spendete schwaches Licht. Wir unterhielten uns über dies und das. Plötzlich sagte Jens: „Moment mal, jetzt kann ich nicht mehr weiter reden!“ Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. Schweigen. Nach ein paar Minuten sagte er: „Wir haben jetzt ein Problem. Eine Arterie ist total verkalkt und es besteht akute Herzinfarkt-Gefahr. Das heißt, wir müssen sofort eine Bypass-Operation machen oder Stents setzen. Für was willst Du dich entscheiden?“

Alarmstufe Eins!
Eigentlich war ich hier, um meine Herzklappen untersuchen zu lassen. Und jetzt gab es Alarmstufe Eins wegen Herzinfarktgefahr! Ich war total überrascht, aber nicht aufgeregt, denn ich wusste, dass mein Schutzengel irgendwo im Raum schwebte. Ich entschied mich für Stents und Jens machte sich an die Arbeit. Stents sind kleine durchlässige Metallzylinder, die dafür sorgen, dass die Ader nicht verklebt und das Blut ungehindert fließen kann.
Auf dem Bildschirm konnte ich sehen, wie er mit einer Sonde in die Ader am Herzen eindrang und sie mit einem Ballon-Katheter ausweitete, bevor er den ersten Stent setzte. Auf den ersten Stent folgte der zweite – am Ende waren es fünf.
Während ich mein Herz beobachtete, wie es mit zuckendem Rhythmus unentwegt schlug, fühlte ich mich in der Existenz gut aufgehoben. Ihre elektrischen Impulse sind es, die meinem Herzen den Takt vorgeben. Und ich spürte, dass ich mich darauf verlassen konnte. Ist es nicht ein Wunder, dass mein Herz schlägt – ganz ohne mein Zutun? Seit 82 Jahren pumpt es Blut durch meine Adern, bei Tag und bei Nacht und ich hatte mich nie darum gekümmert, noch hatte ich mich dafür bedankt! Jetzt holte ich das nach.

Stress im Krankenhaus
Nach zweieinhalb Stunden wischte sich Jens den Schweiß von der Stirn. Die Operation war beendet. Er legte seinen Schutzanzug ab und half mir, vom Operationstisch in mein Bett umzusteigen. „Ich bringe dich jetzt zur Intensivstation“, sagte er. „Es kann nämlich passieren, dass es länger als eine Stunde dauert, bis du hier abgeholt wirst.“ Dann schob er mit mir ab.
Ich war jetzt seit 24 Stunden in diesem Krankenhaus und spürte eine Atmosphäre konzentrierter und nervöser Dringlichkeit. Ärzte, Schwestern und Pfleger bewegten sich hier nur im Eilschritt durch die Korridore. Auch der Pfleger, der mich vor drei Stunden in meinem Zimmer abgeholt und mein Bett zum Herzkatheter-Zentrum geschoben hatte, legte dabei ein Tempo vor, als ob es um die Goldmedaille im Bettenschieben geht. Als ich ihn darauf ansprach, erzählte er von der Privatisierung des einst städtischen Krankenhauses an einen privaten Konzern und schimpfte über Personalabbau, Mehrarbeit, Überstunden und Stress. Seit seiner Privatisierung erwirtschaftet das Krankenhaus Gewinne anstatt Schulden. Die Zeche zahlt im Wesentlichen das Pflegepersonal, das vollkommen überlastet ist.

Time is Money
Früher hatten Krankenhäuser eine Seele. Das Pflegepersonal und die Ärzte hatten Zeit für ein aufmunterndes Gespräch am Krankenbett, für einen Scherz und manchmal sogar für tröstliches Händchenhalten. Dafür fehlt heutzutage die Zeit. Die Kosten explodieren, denn die Hightech-Medizin, die sich auf höchstem Niveau ständig und rasant weiterentwickelt, wird immer teurer. So haben sich immer mehr Krankenhäuser und Arztpraxen in Reparaturbetriebe verwandelt, deren oberstes Gesetz die betriebswirtschaftliche Rentabilität ist. Der Umgangston ist sachlicher geworden. Nur die notwendigsten Fragen werden gestellt, und man erwartet vom Patienten knappe Antworten. Time is money.
Es macht keinen Sinn, sich darüber zu beschweren. Während ich im Krankenhaus war, ist mein Respekt vor der Hightech-Medizin mächtig gewachsen. Sie hat eine beeindruckende Elite von hoch qualifizierten Fachärzten hervorgebracht, und ich war stark beeindruckt von der Freundlichkeit des Personals. Das Problem besteht darin, dass wir, die krankenversicherten Bürger, nicht bereit sind, ein Gesundheitssystem zu finanzieren, das uns allen eine medizinische Versorgung auf höchstem technischen Niveau garantiert. Das ginge natürlich nur über drastisch höhere Beiträge zur privaten und vor allem zur gesetzlichen Krankenversicherung. Und die sind politisch nicht durchzusetzen. Bisher sind alle Reformvorschläge gescheitert und nichts spricht dafür, dass man das Problem mit herkömmlichen Mitteln in den Griff kriegen kann. Deshalb sagen viele Experten den baldigen Zusammenbruch unseres Gesundheitssystems voraus.

Wo bleibt die Eigenverantwortung?
Vielleicht hilft es, wenn wir uns auf den Kern des Problems besinnen und dafür eine Lösung suchen. Der Kern des Problems sind wir. Wir haben hohe Ansprüche an unsere Ärzte, aber nicht an uns selbst. Millionen von Menschen ernähren sich falsch, sind mit ihrem Körper nicht in Kontakt, bewegen sich nicht genug, machen sich zu viel Stress und Sorgen. Nur wenn sie dazu gebracht werden können, ihre Gesundheit intelligent und diszipliniert zu fördern, kann sich unsere Gesellschaft auf Dauer eine moderne medizinische Versorgung für alle leisten.
Die Schulmediziner haben ihre Patienten bisher nicht auf diesen Weg bringen können. Dafür haben sie vielleicht auch gar nicht die Zeit. Deshalb glaube ich, dass die Heilpraktiker mit ihren alternativen Methoden eine zunehmend wichtige Rolle spielen werden. Schon jetzt ist es so, dass immer mehr Menschen Hilfe bei den Heilpraktikern suchen und nicht bei den Ärzten, die ihnen immer nur ein paar Minuten Aufmerksamkeit schenken können.
Gewiss könnte das Gesundheitswesen sehr viel effizienter und billiger sein, wenn die unselige Barriere der Vorurteile zwischen der Schulmedizin und der alternativen Medizin abgebaut würde. Viele Heilpraktiker halten die Schulmediziner für Fachidioten und viele Schulmediziner halten die Heilpraktiker für esoterische Spinner. Und dieses Vorurteil benutzen natürlich die gesetzlichen Krankenkassen gerne als Vorwand, um die Anwendung vieler wirksamer und alterprobter naturheilkundlicher Methoden nicht zu bezahlen.
Die Front zwischen Schulmedizin und alternativer Medizin wird zwar langsam durchlässiger, aber wir sind noch weit von einer harmonischen Kooperation entfernt. Den meisten Schulmedizinern fällt es nach wie vor schwer, sich vorzustellen, dass der Körper seine eigene Intelligenz besitzt und dass das Bewusstsein mit ihm kommunizieren kann.

Und das Herz antwortet
Selbst mein Freund Jens hat damit ein Problem. Dabei gehört er nicht zu den Ärzten, die gleich den Hammer herausholen, wenn die leichte Berührung mit einer Pfauenfeder ausreichend ist. Aber als ich ihm sagte, ich hätte mein Herz gefragt, ob es operiert werden wolle oder nicht, und das Herz habe darauf mit einem klaren „Ja! Unbedingt“ geantwortet, beugte sich Jens in seinem Stuhl vor und schaute mich misstrauisch an. „Das Herz gefragt?“, fragte er, so als wollte er sicher sein, dass er sich nicht verhört hatte.
„Ja“, bestätigte ich und hatte das Gefühl, dass er mich in diesem Augenblick am liebsten in die Psychiatrie eingewiesen hätte.
Nachdem ich eine Nacht in der Intensivstation verbracht hatte, checkte ich aus dem Krankenhaus aus und fuhr mit der Bahn nach Hause. Unterwegs rief ich Jens auf dem Handy an. „Ich komme gleich mal bei dir vorbei“, sagte er, und als ich ihm sagte, dass ich im Zug säße und auf dem Weg nach Hause sei, entfuhr ihm ein spontaner Protest: „Du bist verrückt!“, rief er. Vielleicht hat er ja recht.
Am Abend telefonierte ich mit meinem Hausarzt Swami Maneesh. „Was hat denn die Operation psychisch mit dir gemacht?“, fragte er. „Ich weiß jetzt, dass meine Uhr abläuft und dass jeder Moment mein letzter sein kann“, sagte ich. „Also beschäftige ich mich nur noch mit Dingen, die mir wirklich wichtig sind. Entschleunigung ist angesagt. Mehr denn je genieße ich den Augenblick.“