Herbes Glück auf Kosten der Kasse

Einblicke und Erfahrungen im Krankenhausbett und in der Rehaklinik

von Jörg Andrees Elten

Siebte Etage – Dreibettzimmer. Neben mir (Bettenabstand ca. 40 cm) Horst, Mitte Fünfzig, ein 120 Kilo Koloss, Elektriker, verheiratet. Hinter ihm, neben dem Eingang, lag Werner. Anfang fünfzig, früher Koch bei der DDR-Handelsmarine. Schmächtig, zurückhaltend, alleinstehend .

Kaum hatte ich mein Bett bezogen, kam Horst nach einer längeren Sitzung vom Klo zurück, wuchtete seinen massigen Bierbauch vorsichtig über die Bettkante und ächzte enttäuscht: „Scheiße im Kanonenrohr kommt leider nur sehr selten vor.“

Von hinten kommentierte Werner:“ Keine Panik! Die Anästhesie lähmt den Darm. Das geht nach zwei Tagen vorbei!“ Später erzählte er mir: „Ich bin seit acht Jahren arbeitslos, und seit vier Jahren geht's praktisch von einem Krankenhaus ins nächste“.

Er seufzte tief, sprach aber mit einem triumphierenden Unterton. Immerhin hatte er seine Knappschaftskasse dazu gebracht, ihm vier Gelenkprothesen zu spendieren – zwei für die Hüfte und zwei für die Knie. Das rechte Kniegelenk musste jetzt schon wieder raus und durch ein neues ersetzt werden. Das wäre dann die fünfte Prothese in vier Jahren.

Horst war am Tag zuvor operiert worden. Sein rechtes Hüftgelenk war schon vor einem Jahr erneuert worden. Jetzt hatte er auch links ein neues. Sein ganzes Skelett ächzte unter der Wucht seiner Masse. „Ich laufe praktisch auf den Felgen“, sagte er. Und schwärmte von den Zeiten, als er Handball in der zweiten Liga gespielt hatte. „Jetzt findet Sport bei mir nur noch vor der Glotze statt ,“ grinste er. „Ein Sechserpack Hasseröder gehört immer dazu“.

Ich brauchte eine Gelenkprothese, weil ein Fahrradsturz mit Knochenbruch die Durchblutung des Hüftgelenks unterbrochen hatte. Zwei Krankenpfleger schoben mein Bett im Laufschritt in den Aufzug, so als ginge es um Leben und Tod. Dabei war Tempo nur aus betriebswirtschaftlichen Gründen angesagt. Hier wurde wie am Fließband in sieben Operationssälen gleichzeitig operiert, und jede Minute zählte. Knappe Zurufe, keine überflüssigen Worte. Man trug grüne Kluft mit Kapuze und Maske vor dem Mund.

„Möchten Sie Pavarotti hören?“, fragte eine OP-Schwester, als sie mir ein Paar Kopfhörer aufsetzte. Pavarottis gewaltige Stimme sollte während der Operation unter Lokalanästhesie das hässliche Geräusch der Knochensägen- und – fräsen übertönen. Ich wollte lieber Bach haben. Und so kam es, dass ich durch den dezenten Klang einer Bach-Fuge deutlich hören konnte, wie der Chirurg die Titanprothese mit kräftigen Hammerschlägen in den ausgefrästen Oberschenkelknochen trieb. „Wie beim Hufschmied“, dachte ich.

Ebenso schnell wie ich gekommen war, wurde ich nach zwei Stunden wieder aus dem Operationstheater herausbefördert.

Als nächster kam Werner an die Reihe. Er kehrte erst nach 24 Stunden zu uns zurück. „Die haben mich doch glatt auf der Intensivstation liegen lassen“, schimpfte er und stieß einen seiner unvergleichlichen Seufzer aus. „Dafür kriegen sie natürlich ordentlich Extra-Kohle von der Kasse.“

Der Krankenhausbetrieb lief mit einer geölten Präzision ab, die keinen Raum für Pannen und Störungen ließ. Die Schwestern – allesamt fürsorglich und gut gelaunt – schoben Horst sogar, wenn immer er wollte, mitsamt seinem Bett in die Raucherzone am anderen Ende der Etage, damit er dort eine Marlborough durchziehen konnte.

Werner war schon einen Tag nach seiner Operation ständig mit einem Rollstuhl unterwegs. Am liebsten rauchte er auf der Dachterrasse. Dabei durfte er sich eigentlich überhaupt nicht bewegen. Das hatte ihm der Stationsarzt eingeschärft, der jeden Morgen mit einem krachenden „Morgen, die Herren!“ in unser Zimmer einfiel. (Krankenhauspersonal verkehrt generell im Brüllton mit den Patienten, weil die meisten schon das Schwerhörigkeitsalter erreicht haben).

„Schon abgeführt?“ brüllte der Stationsarzt, und Horst meldete: „ Naja , meine normale Portion war das nicht!“ – „Wird schon werden“, tröstete der Doktor und weg war er.

Dann betrat eine dezent in schwarz gekleidete Dame den Raum, stellte sich als Diätberaterin vor und erkundete unsere Menuewünsche . Es gab drei Varianten, darunter sogar eine vegetarische. (Mineralwasser wurde von den Schwestern rund um die Uhr ans Bett serviert). Dass die Diätberaterin jeden Tag kam, fand Werner überflüssig .“ Geldverschwendung“, maulte er.

Ich wunderte mich eher darüber, dass wir in 2000 Euro teueren Hightec Betten lagen. Und dass es Kleenex auf dem Nachttisch gab, sowie Telefon mit persönlicher Chipkarte und direktem Netzanschluss. Und Radio und Fernsehen (inklusive Kopfhörer) mit über 20 Programmen, die über Telefontasten angewählt wurden. Dabei lagen wir doch hier nur in der Holzklasse.

Werner erhielt jeden Tag Besuch von einer älteren Dame. Sie wohnte in einem eleganten Stadtviertel und ging gerne als freiwillige Helferin ins Krankenhaus, um einsame Patienten zu besuchen. Werner kannte sie seit Jahren. Immer, wenn ein neues Gelenk fällig war, sagte er ihr rechtzeitig bescheid, und dann kam sie mit Blumen und Keksen.

Unermüdlich war sie um sein Wohlbefinden besorgt. „Willst du dies, Werner? Willst du das, Werner? Du solltest mehr trinken, Werner! Hast du denn wenigstens gut geschlafen, Werner? Du brauchst frische Luft…“ Und Werner war glücklich. Oft fuhren sie mit dem Lift hinauf ins Dachterassen-Café . Da saßen sie in inniger Co-Dependency vor Kaffee und Kuchen – die Wohltäterin und ihr Leidender.

Am dritten Tag wurden Werners Seufzer noch dramatischer: sein operiertes Knie schmerzte. „Vielleicht bist du zu viel herumgetigert“, vermutete ich. Werner seufzte: „Ich habe diese innere Unruhe, weißt du? Kann einfach nicht still im Bett liegen!“ Also zurück in den Operationssaal und danach dreimal pro Tag frische Verbände. Nachts schnarchte er wie ein Ozeanriese, der mit brüllenden Nebelhörnern in den Hafen einläuft. Wenn das Getöse plötzlich abbrach, wusste ich, dass Werner aufgewacht war und mit Druck auf die rote Alarmklingel die Nachtschwester in Bewegung setzte. 

Meine Krankenkasse hatte ihr Okay für eine Rehaklinik am Ostseestrand gegeben. Werner kannte sie natürlich und schwärmte: „Erste Sahne. Nur Einzelzimmer. Ich hatte das letzte Mal Blick auf den Yachthafen.“ Horst wollte da nicht hin. „Zu viel Rummel! Ich gehe nach Bad Bramstedt“, sagte er. „Da ist es ruhiger“. Seine Kasse spendierte ihm sogar drei Wochen Nachbehandlung in der Rehaklinik , anstatt zwei Wochen, die allgemein üblich sind. „Ich habe mit meinem Chef einen Deal“, vertraute er mir an. „Er kündigt mir, bevor ich ins Krankenhaus gehe, und wenn ich aus der Rehaklinik raus bin, stellt er mich wieder ein. So kriege ich Arbeitslosengeld und er spart Lohnkosten, verstehste ?“

Am zwölften Tag nach der Operation hieß es Abschied nehmen. Ich wurde auf einer Pritsche in einen Krankentransporter geschoben und ab ging es an die Ostsee.

Werner hatte nicht zu viel versprochen. Einzelzimmer, Telefon, Fernsehen, Blick aufs Meer. Sogar einen Internetanschluss für den Computer gab es auf Wunsch. Es war wie Urlaub auf Kasse.

Der Arzt verschrieb ein aufwendiges Therapieprogramm. Am liebsten machte ich Aquawalking im wohltemperierten Meerwasser der riesigen Schwimmhalle. Aber schon bald fühlte ich mich merkwürdig unbehaglich, vor allem wenn ich die Menschen beobachtete. Abgesehen von den relativ jungen Autounfallopfern, die querschnittsgelähmt in ihren Rollstühlen saßen, gab es hier kaum Menschen unter Siebzig.

Vor der pompösen  Glas-und Betonkulisse dieser aufwendigen medizinischen  Wiederaufbereitungsanlage krochen die Alten auf glatten Asphaltwegen an ihren Krücken herum – zwischen Yachthafen und Vita-Restaurant, vorbei an bunten Strandkörben, CocaCola Automaten, sauberen Blumenbeeten und Würstchenbuden. Die Männer schoben gewaltige Hängebäuche vor sich her, und auch die Frauen hatten Mühe, ihre Fettmassen im Gleichgewicht zu halten. Viele Leidensmienen, trübe Blicke, schmale Lippen.

Wenn ich sie belauschte, sprachen sie von ihren Leiden und beschwerten sich über Kleinigkeiten. Sie haben den deutschen Wohlfahrtsstaat mit ihrer Arbeitskraft auf die Beine gestellt. Jetzt wollen sie natürlich die Früchte ernten. Alles soll bezahlt werden, vom neuen Hüftgelenk aus Titan bis zur Behinderten-Klobrille, vom Stützstrumpf bis zum Abführmittel und natürlich auch die Heimfahrt mit dem Taxi.

Sie sind sich nicht bewusst, dass der Wohlstand sie kaputt gemacht hat. Sie ahnen nichts von einer bewussten und natürlichen Lebensführung. Sie sind Opfer einer Medizin, die ihr Leben verlängert und ihnen gleichzeitig die Bürde einer freudlosen Gebrechlichkeit beschert. Vielleicht hat die Natur das menschliche Skelett einfach nicht auf eine Lebensdauer von 80 Jahren angelegt? Vielleicht ist es besser, zu sterben, solange die Gelenke noch mitmachen, der Kopf noch gut funktioniert, die Herzkranzgefäße noch intakt sind? Aber die meisten Alten klammern sich ans Leben, auch wenn es nur noch Leiden bringt. Und jedes Jahr werden die Alten mehr und die Jungen weniger in unserem Land.

Noch bezieht die gigantische deutsche Gesundheitsindustrie ihre Eigendynamik aus der Anspruchsenergie der Patienten. Das Milliardengeschäft mit der Gesundheit läuft noch auf vollen Touren. Aber hier, in meiner Rehaklinik an der Ostsee, wurde mir greifbar bewusst: die glanzvolle Oberfläche trügt – das ganze System gleitet auf den Abgrund zu.

Auch ständige Leistungskürzungen werden es nicht retten. Aber vielleicht wäre eine radikale Umkehr vom Anspruchsdenken zur Selbstverantwortung möglich. Wie wäre es denn, wenn der Finanzminister die Milliarden aus der Tabaksteuer in Aufklärungskampagnen für eine gesunde Lebensführung steckte, in die Förderung ganzheitlicher und kostengünstiger Alternativmedizin, in die Förderung der Biolandwirtschaft, in Sportanlagen für Jung und Alt? Dann wären wenigstens nicht mehr als die Hälfte unserer Kinder übergewichtig und schon im Begriff, auf der Müllhalde unserer perversen Zivilisation zu landen.

Am Vorabend meiner Abreise hing ein Anschlag neben dem Eingang zum Klinikrestaurant. Der örtliche Pastor kündigte einen Vortrag an. Das Thema:

LEBEN OHNE ILLUSION

© Jörg Andrees Elten