Leise rieselt der Schnee…

… und sorgt für Chaos im High Tech Land / Über die Kluft zwischen Technik und Bewusstsein

Gegen zehn Uhr morgens merke ich, dass die Heizung kalt wird. Anruf bei Horst. Er ist der einzige, der eine Ahnung hat, wie unser Hightech-Holzschnitzel-Fernwärme-Heizkraftwerk funktioniert, das wir voriges Jahr in unserem Dorf hochgezogen haben. „Gut dass du anrufst“, sagt Horst. „Ich fahre sofort los“. Fahren? „Wieso kann denn der noch fahren?“ denke ich. Mein Auto steckt seit zwei Tagen im Schnee fest.

Eigentlich sollte unser Kraftwerk total betriebssicher sein. Der Spezialist, der den Bau überwacht hat, kann das Ding angeblich über seinen Computer fernsteuern – von einem Kaff in Brandenburg aus,  250 km von uns weg. Leider macht er wohl grade Ferien.

Es schneit und schneit. Klirrender Frost. Eisiger Wind aus Nordost. Überall Schneeverwehungen. Frau Bumann, unsere Postbotin, hat es nicht geschafft, zu uns durchzukommen. Auch die „Ostsee Zeitung“ ist nicht geliefert worden. Ich komme mir vor, wie in einer Forschungsstation in der Arktis. Gottseidank ist der Kühlschrank gut gefüllt. Zehn Tage könnte ich durchhalten mit meinen Ressourcen. Nur die Heizung darf natürlich nicht ausfallen…

Ich ziehe mich warm an, klemme eine Flasche Nuss-Likör unter den Arm und breche zu meiner Nachbarin Hilde auf, um ihr frohe Weihnachten zu wünschen. Kaum aus dem Haus, versinke ich fast bis über zur Hüfte im Schnee und kämpfe um mein Gleichgewicht. Schon von weitem sehe ich: Aus Hildes Schornstein dringt weißer Rauch. „Die hat…˜s gut“, denke ich, „die hat noch Ofenheizung“.

Hilde, 76 Jahre alt, schneeweißes Haar, strahlende graue Augen, ist eine einfache Frau, aber sie besitzt die Gnade der Altersweisheit. „Ich verstehe das ganze Theater um das Wetter überhaupt nicht“, sagt sie.  „Früher haben wir uns über weiße Weihnachten gefreut. Jetzt reden alle von einer Wetterkatastrophe.“

„In Thüringen gibt es auf der Autobahn 100 km Stau in beiden Richtungen!“ wende ich ein. Hilde macht eine wegwerfende Handbewegung: „Na und? Das kommt davon, wenn man sich bei so einem Wetter ins Auto setzt.  Geschieht denen ganz recht.“

„Es gibt ja auch viele, die mit der Bahn fahren wollen…“, sage ich und Hilde unterbricht: „Die sitzen jetzt auf ihren Koffern und warten auf Züge, die nicht kommen oder stundenlang verspätet sind. Was ist das denn für eine Bahn, die kaum noch fährt, wenn es schneit? Früher sind wir mit der Dampflokomotive gefahren. Die fuhr bei jedem Wetter. Pünktlich! Angeblich sind die Weichen eingefroren. Seit wann muss man denn Weichen heizen? Verstehst du das?“

Ich verstehe das auch nicht. Im Sommer haben die Klimaanlagen in den ICE’s schlapp gemacht. Im Winter frieren die Weichen ein. Hilde: „Was nützt eigentlich der ganze Fortschritt, wenn er nur Stress macht? Hast du im Fernsehen das Chaos auf den Flughäfen gesehen? Die Helfer tun mir leid. Die schenken rund um die Uhr Kaffee aus und verteilen Sandwiches. Und dann spucken ihnen die Passagiere ins Gesicht, weil die Flugzeuge nicht starten. Als wenn die was dafür könnten!

Hilde ist jetzt so richtig in Fahrt gekommen:„Wieso muss man auch über Weihnachten nach Thailand fliegen. Oder nach Afrika? Das ist doch reiner Wahnsinn!“

Um die Weihnachtszeit schien es so, als ob die Natur uns mal ihre raue Seite zeigen wollte, um uns aufzuwecken und bewusst zu machen, wie hilflos wir mit unserer großartigen modernen Technik umgehen. Hilde ist davon nicht betroffen. Sie hat kein Auto und ist noch nie in ein Flugzeug gestiegen. Ihr Reich ist ihr Gemüsegarten mit den Hühnern, den Kaninchen und den Enten. Sie kauft nicht im Supermarkt ein, sondern bei dem Händler, der zweimal in der Woche mit seinem Spezial-LKW ins Dorf rollt und fast alles an Bord hat, was der Mensch so braucht.

Hilde schwingt nicht auf der kurzatmigen Frequenz, auf der wir unsere Neurosen pflegen. Der Kern ihrer Weisheit ist ihre Bescheidenheit.

Seit der Mensch das Beil erfunden hat, wird seine Erfindungsgabe von dem Drang beseelt, die gefährlich unberechenbare Natur unter Kontrolle zu bringen. Dabei sind im Laufe der Jahrhunderte immer neue, immer spektakulärere Wunderwerke des menschlichen Geistes entstanden. Das Flugzeug zum Beispiel, das dem Menschen ermöglicht, die Schwerkraft zu überwinden. Die Atomspaltung, die ungeheure und unerschöpfliche Kräfte freisetzt. Raumschiffe die den Globus umkreisen. Eingriffe in das menschliche Erbgut und die Fähigkeit, das Wunder der Zeugung im Reagenzglas zu ermöglichen. Die Transplantations Chirurgie, die es erlaubt, den menschlichen Körper mit Ersatzteilen zu reparieren. Und nicht zuletzt das Auto, das den uralten Traum von grenzenloser individueller Mobilität zu erfüllen versprach.

Die Dynamik des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts hat sich besonders in den letzten 300 Jahren dramatisch verschärft. In dieser Zeit wurde die Gier zu ihrer stärksten Antriebskraft. Es ging nicht mehr nur darum, sich vor den Unbilden der Natur zu schützen. Der Fokus verschob sich mehr und mehr auf die lukrative Ausbeutung des Planeten. Die Industrialisierung ging auf Kosten der Natur, von der sich die Menschen immer weiter entfernten. Das Gefühl dafür, dass Mensch und Natur eine Einheit sind, ging fast gänzlich verloren, und damit auch die Einsicht, dass Naturzerstörung ein Akt menschlicher Selbstzerstörung ist.

Die Disharmonie zwischen Mensch und Natur hat dazu geführt, dass sich die Dynamik des wissenschaftlich-technischen Fortschritts verselbstständigt hat und schließlich außer Kontrolle geraten ist. Wir beherrschen die Technik nicht mehr, sie beherrscht uns. Sie bedient unsere Gier, unsere Bequemlichkeit, unseren kindischen Spieltrieb, unsere Eitelkeit, unseren Größenwahn. Und damit ist ihr Reiz fast unwiderstehlich geworden. Mit anderen Worten: Wissenschaft und Technik haben sich viel schneller entwickelt als das menschliche Bewusstsein. Die tiefe Kluft zwischen Bewusstsein und "Fortschritt" hat dazu geführt, dass sich fast alle großen technischen Errungenschaften gegen den Menschen ausgewirkt haben.

So brachte uns zum Beispiel die Kernspaltung die Atombombe und das Atomkraftwerk, das wir nicht wirklich im Griff haben. Als das Auto erfunden wurde, schien der uralte Traum des Menschen nach grenzenloser Beweglichkeit in Erfüllung zu gehen. Was ist daraus geworden? Staus, Unfälle, Frust, Chaos, Umweltzerstörung. Die Hightech-Medizin hat dazu geführt, dass die Menschen länger leben, aber im Alter zu Millionen in Pflegeheimen dahindämmern. Und dann die Computer! Wir lieben und wir hassen sie. Sie haben uns die Welt des Internets beschert und sie treiben uns zum Wahnsinn, weil sie einfach nicht zuverlässig funktionieren wollen. Sie sind der Motor des Informationszeitalters und sie haben weltweit Hunderte von Millionen Arbeitsplätze vernichtet. Sie machen keinen Unterschied zwischen Gut und Böse. Sie dienen Menschenhändlern ebenso wie Wissenschaftlern, sie helfen Umweltschützern ebenso wie Hackern, die dein Kennwort klauen und dein Onlinekonto abräumen. Und jetzt werden sie auch als unheimliche Waffe in einem neuen Krieg eingesetzt, der unter dem geheimnisvollen Namen "Cyber War“ die schlimmsten Befürchtungen auslöst.

Überall auf der Welt basteln Programmierer an der Entwicklung von Software Programmen, die den Flugverkehr ins Chaos stürzen, Fabriken still legen, Kraftwerke außer Kraft setzen, Verkehrsströme und Informationsnetzwerke sabotieren und noch jede Menge anderen Blödsinn anrichten können. Computerspezialisten der Geheimdienste bereiten sich darauf vor, dass Terroristen im Cyber War zum Angriff übergehen.

Viele Menschen spüren natürlich, dass der so genannte Fortschritt ein unheimliches Phänomen ist. Was ist zu tun? Immer mehr Aktivisten organisieren sich und nehmen den Kampf gegen die Regierenden auf, denen sie die Schuld für unseren unverantwortlichen Umgang mit der Technik zuschieben.

Ohne Frage haben die Politiker versagt. Eine vernünftige Verkehrspolitik müsste zum Beispiel die Pendlerpauschale abschaffen und das Benzin noch stärker besteuern. Sie müsste die Autoindustrie dazu zwingen, viel schneller und energischer neue Mobilitätskonzepte zu entwickeln. Der Flugverkehr müsste viel teurer werden. Dafür müssten die Bahn- Tickets subventioniert und der Güterverkehr auf der Bahn drastisch gefördert werden. Mit anderen Worten: wir brauchen eine Politik, die uns, den Wählern, große Opfer abverlangt.

Dazu hat der pragmatische und scharfzüngige luxemburgische Premier- und Finanzminister Jean Claude Juncker kürzlich einen trockenen Kommentar geliefert: „Wir Politiker wissen schon, was wir tun müssen. Wir wissen nur nicht, wie wir danach wiedergewählt werden können.“

Gregor Gysie, der Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, sieht das Problem vollkommen anders. In einem Dialog mit dem buddhistischen Mönch und Poeten Thich Nath Hanh, das schon vor zehn Jahren stattfand, formulierte der frühere DDR-Anwalt eine interessante Einsicht: „Ich fürchte eine gottlose Gesellschaft, weil ich weiß, dass sie eine Gesellschaft ohne Werte sein wird… Meine Frage ist, woher soll die Erkenntnis kommen, dass wir uns beschränken müssen, die Erkenntnis auch, dass ich das, was ich der Natur nehme, ihr auch wieder zuführen muss? Von den Regierenden und der Politik wird das nicht kommen. Deshalb komme ich zu der Erkenntnis, dass die Religion in diesem Jahrhundert eine größere Rolle spielen muss…“

 

P.S. Übrigens:  Die Heizung ist nach ein paar Stunden wieder angesprungen. Dafür gibt es seit drei Tagen keine Internetverbindung: Die Telekom hat plötzlich die Zugangsdaten nicht mehr erkannt – und die neuen Daten noch nicht  geschickt. Durchatmen…Ruhe bewahren…surrendern…