Mein Freund Henry Miller

Einer der größten Schriftsteller der Weltliteratur ist fast in Vergessenheit geraten

Thomas Mann einen „inspirierten Esel“ zu nennen, ist ein starkes Stück. Eine Majestätsbeleidigung. Für Henry Miller kein Problem. Er hat sein ganzes Leben lang gesagt, was er denkt – ohne wenn und aber. Miller und Mann sind wie Feuer und Wasser. Henry Miller ist ein Vulkan. Thomas Mann ist der kühle Ästhet. Der Lübecker Nobelpreisträger schreibt mit dem Kopf. Miller, in New York geboren als Sohn eines deutschen Schneiders, schreibt mit dem Herzen. Henry Miller ist mein Lieblingsschriftsteller.

Wenn ich Miller lese, kommt es mir so vor, als säße ich mit ihm in einem Pariser Cafe und er erzählt mir seine Geschichten. Ich lache mit ihm, ich leide mit ihm. Wir sind uns so nahe, wie zwei gute alte Freunde. Wenn er so richtig auf  Touren kommt, packt er mich am Arm und reißt mich mit in seine Ekstasen, seine Exzesse, seine Höllenfahrten und seine Höhenflüge.

Er schreibt direkt und kompromisslos. Manchmal ist er atemlos, wie ein rasender Trommler, der in Trance seine Klöppel schwingt – laut, herrisch, unwiderstehlich. Da ist nichts Geziertes, nichts Berechnendes, kein falscher Ton. Da ist einfach nur Henry Miller, der Besessene, der mit dem ganzen Universum pulsiert, wenn er in die Tasten seiner Schreibmaschine hackt und die Worte ihm zufliegen, wie Botschaften aus einer anderen Welt. „Das ist wie ein Diktat“, hat er oft gesagt.  

Henry Miller ist in Vergessenheit geraten. Dabei ist er so aktuell wie noch nie. Seine Reisebetrachtungen über das Amerika der Nackriegszeit (1945-1947) – „The Airconditioned Nightmare“ – lesen sich wie eine apokalyptische Vorwarnung. In einer gnadenlosen Abrechnung mit dem American Way of Life  prophezeit Miller den gewalttätigen Niedergang des Dollar-Materialismus, der die ganze Welt infiziert und in den moralischen Abgrund reißt.

Henry Miller spürt, dass die Lebendigkeit der Menschen in der kapitalistischen Konsumgesellschaft langsam verschwindet. In der Betonlandschaft der von Gier, Stress und Gewalt erfüllten Metropolen entfernen sich die Menschen immer weiter von der Natur. Nur im Sexualakt - so sieht es Miller - ist der Mensch noch unmittelbar mit der Natur verbunden. Nur im Orgasmus spürt er noch den Atem des Universums. Deshalb spielt Sex in seinen Büchern eine so wichtige Rolle. Niemand hat den Sexualakt mit einer solchen Präzision und sensiblen Wucht beschrieben, wie Henry Miller, der Ende der zwanziger Jahre dem Würgegriff der amerikanischen Zivilisation entkommen und in das kreative Milieu der Pariser Boheme geflohen war.

In Amerika durften seine Bücher wegen „Pornographie" jahrelang nicht gedruckt und verkauft werden. Ein Pariser Verleger brachte sie auf Englisch heraus und die ersten Leser Henry Millers waren amerikanische Besatzungssoldaten, die der Zweite Weltkrieg nach Deutschland verschlagen hatte. Die GI`s schmuggelten Millers „Wendekreis des Krebses“ nach Amerika. Dort schlug das Buch wie eine Bombe ein. Aber erst viele Jahre und viele Pornografieprozesse später, wurde die Zensur gegen Miller aufgehoben. „Keine Pornografie, sondern freie Meinungsäußerung“ entschied ein Berufungsgericht. Jetzt endlich war es so weit, dass einer der größten Schriftsteller der Weltliteratur von seinen Honoraren leben konnte.

Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges hatte Henry Miller aus Paris vertrieben. Nach einer Reise durch Griechenland, wo sein wunderbares Buch “Der Koloss von Maroussi… entstand, kehrte er nach Amerika zurück und ließ sich in Big Sur an der pazifischen Steilküste südlich von San Francisco nieder. Dort schrieb er 1957 unter anderen das Buch “Big Sur und die Orangen des Hieronymus Bosch…, das eines meiner Lieblingsbücher ist.

Als ich 30 Jahre später nach Big Sur kam, um Henry Millers Spuren zu suchen, war er schon sieben Jahre tot. Sein Haus an der Küste war schwer zu finden und scheinbar unbewohnt. Oben, am Rande des idyllischen Pacific Coast Highway, entdeckte ich ein Gartentor mit der Aufschrift "Henry Miller Haus“.  Das Haus, ein kleiner, verwitterter Holzbau, lag weiter hinten im Garten inmitten üppig blühender Sträucher und Bäume. Ich schlug die Glocke am Tor an. Niemand zeigte sich. So ging ich zum Haus und klopfte an der Tür. Von drinnen hörte ich eine schwache, zittrige Stimme: "Come on in!“ Ich ging hinein und da saß Emil White, einst Henry Millers bester Freund und sein Faktotum.

Ich sah sofort, dass Emil, den Miller in vielen seiner Bücher immer wieder liebevoll erwähnt hat, an Parkinson litt. Während sein ganzer Körper heftig bebte, versuchte er mit zittriger Hand klein geschnittene Lachshappen in seinen Mund zu befördern. Ich begrüßte ihn auf deutsch, und Emil, ein gebürtiger Österreicher, freute sich und lud mich zu einem Glas Sherry ein. Er hatte sein kleines Haus in ein Henry Miller Haus verwandelt, weil es im ganzen Land keine Gedenkstätte für einen der größten amerikanischen Schriftsteller gab.

Die Wände waren mit Henry Miller Fotos tapeziert, es gab mit der Hand korrigierte Manuskripte, Briefe und Postkarten. Emils Augen glänzten, als er von erotischen Abenteuern berichtete, die er gemeinsam mit Miller bestanden hatte. Als wir von Millers berühmtester Geliebten, der Schriftstellerin Anais Nin sprachen, schüttelte Emil enttäuscht den Kopf: "Die hatte ja leider überhaupt keine Titten“.

Bevor wir uns verabschiedeten, sagte Emil: "Henry ist in seinem eigenen Land nie verstanden worden - außer von den Hippies und den Blumenkindern. Aber die gibt es auch nicht mehr. Er war seiner Zeit weit voraus. Im Grunde war er ein Mystiker".

 

Henry Miller über das Schreiben

Ich musste Millionen Worte zu Papier bringen, bevor ich meinen Eingeweiden den ersten authentischen Satz entreißen und aufschreiben konnte. Ich besaß alle Unarten eines gebildeten Bücherwurms. Ich musste lernen, auf eine völlig neue, ungebildete Weise zu denken, zu fühlen und zu sehen. Auf meine eigene Weise  - was das schwierigste auf der Welt ist.
Ich musste mich in den Fluss stürzen wohl wissend, dass ich untergehen würde. Positive Veränderungen im Leben kommen nicht durch Anpassung zustande, sondern durch die Kühnheit seinem eigenen blinden Drang zu folgen.
Ich landete zuerst einmal in der Sackgasse, in einer abgrundtiefen Verzweiflung. Denn aus meiner Sicht gab es überhaupt keine Trennung zwischen mir als Menschen und dem Schreiber Henry Miller: wenn ich als Schreiber versagte, dann war ich auch ein menschlicher Versager. Und ich versagte! Ich wurde mir bewusst, dass ich ein Nichts war – weniger als ein Nichts, ein Minusfaktor. Es war an diesem Punkt im Tal der Verzweiflung, da ich wirklich anfing zu schreiben.
Ich fing noch einmal ganz von vorne an und  warf alles über Bord, sogar die Schreiber, die ich am meisten liebte.
In dem Augenblick, da ich zum ersten Mal meine eigene Stimme vernahm, war ich bezaubert: die Tatsache, dass es eine ganz eigene, unverwechselbare Stimme war, machte mir Mut. Es wurde mir völlig egal, ob jemand meine Schreibe schlecht  fand. Gut und schlecht verschwanden aus meinem Vokabular.
Mit beiden Füßen sprang ich in das Reich der Ästhetik – in das nicht-moralische, nicht-ethische, nicht-nützliche Reich der Kunst. Mein eigenes Leben wurde zu einem Kunstwerk. Ich hatte meine Stimme gefunden – jetzt fühlte ich mich ganz und rund.

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Ich habe in einem absoluten Chaos angefangen, in einem Sumpf von Ideen und Gefühlen und Erfahrungen. Auch heute betrachte ich mich immer noch nicht als einen Schreiber im eigentlichen Sinn des Wortes. Ich bin ein Mann, der die Geschichte seines Lebens erzählt – ein Prozess, der immer unerschöpflicher erscheint, je mehr ich voranschreite, endlos wie die Entwicklungsgeschichte der Welt, ein Prozess, bei dem das Innerste nach außen gekehrt wird, eine Reise durch X Dimensionen – mit dem Ergebnis, dass man irgendwann auf dem Weg entdeckt, dass das, was man erzählt  nicht annähernd so wichtig ist, wie das Erzählen selbst....
Von Anfang an war mir zutiefst bewusst, dass es kein Ziel gibt. Ich gebe mich niemals der Hoffnung hin, dass ich das Ganze umfassen kann. Aber während ich schreibe, vermittele ich mit jedem Fragment, mit jeder Arbeit, die Ahnung vom Ganzen, denn ich grabe tiefer und tiefer in meinem Leben und ich grabe tiefer und tiefer in der Vergangenheit und in der Zukunft. Bei diesem endlosen Graben entwickelt sich eine Gewissheit, die stärker ist als Glaube und Vertrauen. Mein Schicksal als Schreiber wird mir immer gleichgültiger, während mir meine Bestimmung als Mensch immer klarer wird.
Anfangs habe ich eifrig die Technik und den Stil derjenigen Schreiber studiert, die ich damals bewundert und verehrt habe: Nietzsche, Dostojewski, Hamsun – sogar Thomas Mann, in dem ich heute nur noch einen geschickten Techniker sehe, einen inspirierten Esel. Ich habe ihren Stil imitiert, weil ich ihrem Geheimnis auf die Spur kommen wollte: wie schreibt man?
Meine Erfahrung war die eines Zen-Schülers. Ich musste erst begreifen, dass Kenntnisse und Bildung mich nicht weiter bringen können, ich musste alles in Frage stellen, alles zertrümmern, musste in die totale Verzweiflung gehen und von dort in die Bescheidenheit. Ich musste mich sozusagen mit dem Schwamm selber von der Schiefertafel wischen, um meine  Authentizität zurückzugewinnen.  Ich musste an den Rand des Abgrunds kommen – und dann den Sprung in die Dunkelheit wagen...
Heute lerne ich weniger und begreife mehr ... Ich eigne mir immer mehr das Geschenk der Unmittelbarkeit an. Ich sehe die Strukturen der Dinge deutlicher. Ich vermeide simple Deutungen. Je mehr ich weiß, desto weniger  kann ich es erklären. Dabei lebe ich in einer Gewissheit, die nicht auf Vertrauen und Beweise angewiesen ist.
Ich lebe mein Leben total ohne Eigennutz und Egozentrik. Indem ich mein Leben total lebe, trage ich ein wenig zur Entwicklung und zur Bereicherung des Kosmos bei – jeden Tag und in jeder Form.
Ich gebe alles was ich habe und ich nehme so viel wie ich nur irgendwie verdauen kann. Ich bin sowohl ein Prinz wie ein Pirat.
An der Oberfläche, wo seit jeher die Machtkämpfe toben und nur Geld und Power zählen, hält sich die Masse auf. Aber das wirkliche Leben beginnt erst, wenn man unter die Oberfläche sinkt, wenn man mit dem Kämpfen aufhört und einfach verschwindet.
Jetzt habe ich die Freiheit zu schreiben oder nicht zu schreiben. Es gibt keinen Zwang mehr und keinen therapeutischen Aspekt. Was ich tue, geschieht einfach aus reiner Freude; ich lasse meine Früchte fallen wie ein reifer Baum. Was die Leser davon halten oder die Literaturkritiker geht mich nichts an.
Der Sinn des Lebens besteht nicht darin, mit seinem Nachbarn gut auszukommen und seinem Vaterland zu dienen. Er besteht darin, seine eigene Bestimmung zu entdecken und im Einklang mit dem Rhythmus des Universums zu leben...
Das Paradies ist überall. Und jeder Weg – wenn man ihm nur lange genug folgt – führt ins Paradies.  Auf diesem Weg kann man nur voran kommen, wenn man auch rückwärts geht, und auch nach links und nach rechts, nach oben und nach unten. Es gibt gar keinen Fortschritt, es gibt nur unaufhörliche Bewegung in Kreisen und Spiralen – endlos...
Ich glaube, das letztendliche Ziel des Schreibers besteht darin, dem Herzen der Wahrheit näher zu kommen. Er kann dabei nur vorankommen, wenn er aufhört zu kämpfen und wenn er sein Ego loslässt.
Der große Schreiber ist ein Symbol des Lebens, das immer in der Entwicklung und niemals perfekt ist. Während er sich ohne Anstrengung bewegt, ist er verbunden mit seinem unbekannten Zentrum – nicht mit seinem Verstand, sondern mit einem tiefer gelegenem Zentrum, das mit dem Rhythmus des ganzen Universums pulsiert. In diesem Einklang ist er so wie das Universum: solide, unerschütterlich, anarchisch, herausfordernd, ohne Zweck und Ziel. 

(Henry Miller On Writing, A New Directions Paperback, ISBN 0-8112-0112-0)