Mit Bhagwan auf der Achterbahn

Stern-Fotograf Jay Ullal hatte Sensationsfotos aus Indien mitgebracht: Nackte junge Männer mit langen Bärten droschen mit Kissen aufeinander ein. Mädchen verdrehten die Augen und wälzten sich auf schweißnassen Matratzen. Manche sahen schön aus, andere wirkten eher abstoßend.

Keine Spur von Erotik. Kahle, enge Räume. Kunstlicht. Die Fotos machten  Angst: Aufnahmen von Therapiegruppen in Bhagwans Aschram in Poona. Sommer 1977.

Die Bilder wurden in einem abgedunkelten Raum der Stern-Grafikabteilung an die Wand projiziert. Neben mir saß Chefredakteur Henri Nannen. Bleiernes Schweigen. Ich fühlte leichte Schmerzen in meiner rechten Brust – Rippenbruch. Intensive Erinnerung an ein emotionales Gewitter in der „Encountergruppe“ in Poona. Eine rothaarige Sozialarbeiterin aus New York hatte sich mit ihrem breiten Gesäß voller Wucht auf meine Brust geworfen. Knack. Reporter-Pech.

 

Ich hätte an der Gruppe nicht teilnehmen müssen. Aber ich wollte nicht auf dem Zaun sitzen und die Ereignisse aus sicherer Entfernung beobachten. Diese Story war die  aufregendste in meiner journalistischen Karriere, drei arabisch-israelische Kriege eingeschlossen.

Plötzlich ein empörtes Schnaufen neben mir und dann Nannens tiefe Stimme: „Das ist ja absolut widerwärtig!“

Ich mußte spontan lachen. Ein Lachen der Erleichterung, das die dicke Luft im Raum entspannte. „So sieht das eben aus“, sagte ich zu Nannen, „wenn Menschen ihre aufgestauten Aggressionen und ihre sexuellen Verklemmungen entladen. Das ist Therapie. Das ist wie eine Operation am offenen Herzen – die sieht auch nicht appetitlich aus. Aber sie hilft!“

Nannen schaute mich irritiert von der Seite an. „Da bin ich ja mal gespannt, was Sie darüber schreiben werden,“ sagte er.

Ich war selber gespannt darauf. Wie sollte ich das, was ich in Poona erlebt hatte, ganz normalen Menschen erklären? Hippies würden mich verstehen. Die Therapeuten der neuen „Human Growth“ – Bewegung, die in Scharen von Kalifornien nach Poona pilgerten, würden mich verstehen. Viele junge Leute, die sich auf brennenden Barrikaden mit der Polizei geprügelt hatten und nun deprimiert ihre Wunden leckten, würden mich verstehen. Aber meine Kollegen? Meine Freunde?

Die meisten waren intellektuelle Zyniker. Sie glaubten, dass sich kritische Vernunft in politischen Prozessen durchsetzen könne. Ich hatte diesen Glauben aufgegeben. Ich war davon überzeugt, dass ich mich zuerst einmal selbst verändern musste, wenn ich etwas Positives bewirken wollte.

Irgendwann während der „Encountergruppe“ – ich glaube, es war am dritten Tag – hatte ich jedoch die Rolle des coolen Beobachters fallen gelassen und die Chance wahrgenommen, mich in die Tiefen meiner Gefühle zu stürzen. Dabei erfuhr ich mehr über mich, als in meinem ganzen bisherigen Leben. Ich war 49 Jahre alt.

Die Stille war in den Vorführraum zurückgekehrt. Bhagwan schaute von der Projektionsfläche auf uns herab. Sein weißes Kleid mit den scharfen Bügelfalten am Ärmel, der wallende Bart, die schmalen Hände, der Blick hellwach, durchdringend – ein Fenster in die Ewigkeit.

„Jaywand“, hatte er vor ein paar Wochen zu Ullal gesagt, „Du darfst in diesem Aschram überall und so viel wie du willst fotografieren!“

„Mein Gott!“ durchfuhr es mich. Ich wusste doch schon, wie exotisch es hier zuging. Jeden Morgen faszinierten mich Bhagwans Vorträge, seine umfassende Bildung, seine intellektuelle Brillanz, seine ungewöhnlichen Einsichten – und dann ging in den  Gruppenräumen des Aschram die Post ab.

Bhagwan hatte Ullal und mich offenbar dazu auserkoren, einen Skandal für ihn zu inszenieren. Es war der erste, den ich mit Bhagwan erlebte. Ein paar Jahre später fragte ich ihn einmal: „Kann es sein, dass Skandale für dich zum Handwerkszeug gehören?“ Er antwortete ernst: „So ist es! Absolut!“

Gehirnwäsche? Wahnsinn? Gruppensex? So sah es auf manchen Fotos aus – und war doch etwas völlig anderes. In den Therapie-Gruppen wollten die Teilnehmer sich mit ihren Schwächen auseinandersetzen, mit ihren Ängsten, ihrer Wut, ihrer Gier, ihrer Melancholie, ihrer Berührungs-Scheu. Jeder wusste, dass er sich auf ein Abenteuer einließ, denn hier ging es nicht zimperlich zu. Man konnte die Gruppe jederzeit verlassen, aber es kam nicht oft vor. Das Motivations-Niveau war unglaublich hoch.

Ich hatte Bhagwan drei Wochen lang skeptisch und scharf beobachtet. War er ein Weiser oder ein Scharlatan? Ein Verrückter? Ein Genie? Ein Heiliger? Schließlich gewann ich die feste Überzeugung, dass ich einen Erleuchteten Meister vor mir hatte, einen vom Kaliber eines Buddha, eines Lao Tse, eines Jesus, eines Sokrates. Die Einsicht war ein Schock. Bhagwan war damals 47 Jahre alt und ich ahnte, dass er seiner Zeit 100 Jahre voraus war.

War ich verrückt? Natürlich! Zu allen Zeiten waren es die Verrückten, die sich zu spirituellen Meistern bekannten.

Meine Bhagwan-Geschichte war die erste und auch die letzte positive Story, die über den indischen Meister im STERN erschienen ist. Die Kollegen, die nach mir nach Poona flogen, nahmen ihn ganz anders wahr als ich. Übelnehmen kann ich es ihnen nicht, denn Bhagwan machte es allen Leuten unmöglich, ihm auf der Verstandesbene zu begegnen.

Kaum war mein Artikel im STERN erschienen, schwoll der Strom der Poona-Besucher an. Tausende vor allem junger  Menschen auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, kamen zu ihm, ließen sich von ihm als Schüler einweihen und reisten mit der Mala um den Hals wieder ab – darunter so interessante Leute wie der Philosoph Peter Sloterdijk .

Ein Jahr später flog ich wieder nach Poona  – und blieb. Erfolg, Geld und Anerkennung hatten mich nicht glücklich gemacht. Ich fürchtete mich davor, in der Routine abzustumpfen und meine Lebendigkeit zu verlieren. Wer war ich überhaupt? Warum war ich auf der Welt? Was war das Geheimnis des Glücks? Was war Wahrheit? Diese Fragen ließen mich nicht mehr in Ruhe.

Bhagwan gab mir den Schlüssel für die Antworten: die Meditation. Ich lebte in seinem Aschram und schrieb ein Tagebuch, das unter dem Titel „Ganz entspannt im Hier & Jetzt“ ein Bestseller wurde und viel Aufsehen erregte.

„Ganz entspannt im Hier & Jetzt“? Ehrlich gesagt hatte ich mit Bhagwan viel Stress. Vor allem gingen mir seine Skandale auf die Nerven. Kaum hatte er den Heiligen Stein der Moslems, die „Kabaa“ in Mekka,  „den unhygienischsten Stein der Welt“ genannt, stürmten Tausende von wutschnaubenden Moslems auf den Aschram los, und ich schwitzte Blut hinter den Stacheldrahtbarrikaden, die wir eilig aufgezogen hatten.

Und dann der Schock, als ich erfuhr, was Bhagwan einem „Spiegel“-Reporter über Hitler gesagt hatte. „I love the man!“

Bhagwan loves Hitler? Es war total absurd. Ich erinnerte mich an Dutzende von Vorträgen, in denen er Hitler als einen blutrünstigen Psychopathen, einen primitiven Despoten bezeichnet hatte. Und nun plötzlich Love? Ich verstand gar nichts mehr. Es sollte noch ein paar Jahre dauern, bis ich den „modus operandi“ dieses indischen Eulenspiegels durchschaute.

Die Skandale häuften sich – besonders Anfang der achtziger Jahre, als Bhagwan mit seiner Kommune in eine hochgelegene Halbwüste des amerikanischen Bundesstaats Oregon umzog. Dort zog er sich ins Schweigen zurück und übertrug das Kommando einer jungen, hysterischen Inderin – Ma Anand Sheela.

Ich kannte Sheela und wusste, dass sie für Skandale sorgen würde. Unbedenklich, großmäulig und naiv, war sie in Poona für „Außenbeziehungen“ zuständig gewesen und hatte unsere indischen Nachbarn gegen uns aufgebracht. Ihre Ernennung gab mir Rätsel auf.

Was hatte Bhagwan in der Einöde von Oregon vor?

Schon bald stampften hier 1 500 Sannyasins eine lebendige Kleinstadt aus dem Boden -  „Rajneeshpuram“. Wir nannten unsere neue Bleibe einfach „die Ranch“. Ich fuhr einen  Müllwagen kreuz und quer über die Ranch, arbeitete auf dem Schrottplatz und lernte allmählich die Kunst „ganz entspannt im Hier und Jetzt“ zu sein.

Ich glaubte, dass wir im Begriff waren, die Muster-Kommune des 21. Jahrhunderts aufzubauen – international, ökologisch, kreativ, spirituell. Ein Paradies mitten in der Wüste. Dass es dafür keine Baugenehmigungen gab, schien mir nicht so wichtig.

Eines Tages tauchten finstere Gestalten auf. Ein Konvoi von offenen Geländewagen fuhr im Schritttempo durch die Ranch. Auf den Laderampen Typen, wie ich sie bisher nur in Wild-West-Krimis gesehen hatte: Bürstenhaarschnitt, Stiernacken, dunkle Brillen, Lederwesten, Cowboystiefel. Auf ihren Knien lagen Karabiner und Maschinenpistolen. Das waren unsere Nachbarn! Sie sagten kein Wort. Schauten nur finster um sich, und ich ahnte, dass diese Demonstration des Hasses der Anfang vom Ende war. Eines Tages würden sie wiederkommen …

Bisher hatten wir unsere Nachbarn überhaupt nicht wahrgenommen. Sie hausten unter windschiefen Wellblechdächern und rangen dem kargen Boden magere Ernten ab. Sie hatten bestimmt genau so viel Angst vor uns, wie wir vor ihnen, denn seit unserer Ankunft in Oregon zogen christlich – fundamentalistische Eiferer von Einödhof zu Einödhof und hetzten die abergläubischen Farmer gegen uns auf: Die rotgekleideten „Bhagwan-Jünger“ seien vom Teufel nach Oregon geschickt worden! Auf der Zufahrtsstraße zur Ranch tauchte ein großes Schild auf: „Lieber tot als rot!“

Bhagwan fuhr jeden Tag mit einem anderen Rolls Royce durch die Ranch. Seine Sannyasins standen am Straßenrand und jubelten ihm zu. Er saß hinter getönten Scheiben am Steuer und winkte mechanisch. Was wollte er mit diesen „Drive-bys“ bezwecken? Und warum diese albern bemalten Rolls Royces? Am Ende waren es 92!

Die Bhagwan-Kommune war nicht nur für unsere Nachbarn eine unerträgliche Herausforderung. Am Ende drohten sogar  die „National Guards“ dem Ärgernis ein Ende zu  bereiten, und ich hatte das Gefühl, mit einem Bein im Irrenhaus und mit dem anderen im Gefängnis zu stehen.

Ich hätte die Ranch jederzeit verlassen können. Tausende von Sannyasins aus aller Welt, für die es hier keinen Platz gab,  hätten gerne mit mir getauscht. Aber ich blieb. Ich wollte wissen, wie es weiter ging, ich genoss das raue Leben an der frischen Luft und – last but not least war die Ranch ein aufregendes Experiment. Alle, die an diesem Experiment teilnahmen, konnten hier jeden Tag ihr Bewusstsein schärfen und ihre Grenzen kennen lernen.

 

Rajneeshpuram war Bhagwans Mysterienschule. Nicht alle haben es so verstanden. Viele Sheela-Günstlinge hatten sich auf der Ranch ein angenehmes Leben gemacht und manche wurden sogar kriminell. Später nahmen sie es Bhagwan übel, dass sie sich so daneben benommen hatten.

Der Meister lehnte alle Verantwortung ab. Mit Recht, wie ich meine, denn wie jeder authentische Meister hat auch er seine Schüler immer wieder aufgefordert, die Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. „Seid in der Welt, aber nicht von dieser Welt“, hatte Buddha seinen Schülern vor 2 500 Jahren eingeschärft. „Seid euer eigenes Licht!“

Erst als ich begriffen hatte, dass Bhagwan ein moderner Zen-Meister ist, begann ich den Sinn seiner vielen Skandale zu durchschauen. Seit vielen Jahrhunderten hat sich der modus operandi der Zen-Meister nicht verändert. Ein Zen-Meister schockiert, um aufzuwecken, er widerspricht sich ständig, um zu verwirren, er kennt keine Moral und keine Gebote, er stellt Situationen her, in denen seine Schüler Erfahrungen mit sich selbst machen und aufwachen können. Wie jeder Zen-Meister ist Bhagwan – heute noch – ein Spiegel, in dem sich jeder, der ihm nahe kommt, in seiner ganzen Unvollkommenheit erkennen kann.

Bhagwan ist am 19. Januar 1990 gestorben. Sein Aschram in Poona hat sich nach seinem Tod in einen blühenden „Club Meditation“ verwandelt. Seine Bücher werden von angesehenen Verlagen in der ganzen Welt verlegt, und die Auflagen steigen. Die indische Parlamentsbibliothek hat im vorigen Jahr Bhagwans Gesamtwerk erworben – eine Ehre, die selten ist und zuletzt Mahatma Ghandi zuteil geworden war.

Ich gehöre nicht mehr zu den 150 Sannyasins, die im Aschram leben und arbeiten. Meine Lehrjahre in der Bhagwan-Kommune sind beendet. Ich habe meine Zeit mit Bhagwan in drei Büchern verarbeitet (nach „Ganz entspannt im Hier & Jetzt“ kamen „Alles ganze easy in Santa Barbara“ und  „Karma und Karriere“ heraus) und ich lebe wieder in Deutschland – als freier Schriftsteller und als Leiter von Kreativitäts-Seminaren.

Manchmal habe ich Schwierigkeiten mit Menschen, die mich für ein Sektenmitglied halten. Dann platzen Termine. Telefonanrufe werden nicht beantwortet, oder Projekte, die ich gestartet habe, fallen plötzlich durch. Das ist der Preis, den ich dafür zahle, dass ich mich zu einem umstrittenen Meister bekenne.

Ein Sektenmitglied bin ich nie gewesen. Bhagwan, der sich kurz vor seinem Tod den Namen Osho gab, hat keinen Nachfolger und keine hierarchische Organisation hinterlassen. Es gibt in Deutschland etwa ein Dutzend Osho-Meditationszentren, die eigenständig wirtschaften und Bhagwans Meditationen, Bücher und Kasetten anbieten.

Was mir die Zeit mit Bhagwan gebracht hat? Ich habe Vertrauen gelernt. Ich mache mir keine Sorgen mehr. Mein Glückgefühl ist von äußeren Umständen unabhängiger geworden. Ich freue mich an den kleinen Dingen des Lebens.

Ist das alles? Für mich hat es sich gelohnt.

 

 

erschienen im stern, Heft 34/1998