Wie viel Freude verlieren wir durch unsere Feigheit

Eine Betrachtung über die Angst

von Jörg Andrees Elten

Hubertus, ein alter Freund, kam unerwartet. Wir hatten uns viele Jahre nicht gesehen, und als er vor mir stand, wurde mir bewusst, wie viel Zeit vergangen war, seit wir gemeinsam die Welt bereist und viele Abenteuer zusammen bestanden hatten. Wir gingen an der Ostsee spazieren. Es war ein sonniger Frühlingstag. Kein Wind. Schwäne glitten lautlos und stolz vor der Küste entlang und spiegelten sich in der glatten Fläche des Meeres. In der Ferne zogen die weißen Fährschiffe vorüber, die Travemünde mit den skandinavischen Ländern verbinden.

Wir sprachen von alten Zeiten, von den arabisch-israelischen Kriegen, die wir als Berichterstatter mitgemacht hatten. Erinnerten uns an die  Bürgerkriege im Kongo und im Libanon, an die wilden Studentenunruhen in Paris und Berlin. Hatte sich die Welt sehr verändert in all den Jahren? Natürlich hatte sie das, aber was war das Wesen dieser Veränderung? Hubertus meinte: „Ich habe ein ungutes Gefühl. Die Angst wird immer größer! „

War die Angst nicht immer da? War sie während des Kalten Krieges nicht die Triebkraft gewesen für das wahnsinnige Wettrüsten?  Hubertus sagte: „ Die Angst ist diffuser geworden. Unheimlicher. Und das Rüsten geht weiter.“ Unversehens waren wir in eine Diskussion über die Angst verwickelt.

Als Kennedy und Chruschtschow während der Kuba Krise ihre Finger auf dem Atomknopf hatten, hing die Existenz der Menschheit am seidenen Faden. Das ist heute nicht mehr so. Aber seit dem 11. September 2002 ist uns eine neue Bedrohung bewusst geworden, die den Kalten Krieges fast idyllisch erscheinen lässt – die Bedrohung durch Selbstmordattentäter.

Dass Menschen Flugzeuge entführen, ist nicht neu, aber dass sie die gekaperten Jetliner mit 800 Stundenkilometern in Hochhäuser rammen – gab dem Terrorismus eine neue Dimension. Die Welt war total schockiert, zumal die Medien aus der quotenträchtigen Wahnsinnstat maximales Kapital schlugen und wochenlang rund um die Uhr berichteten.

Seither haben viele Menschen das Gefühl, dass es überhaupt keine Sicherheit mehr gibt. Das Gefühl wurde verstärkt, als sieben Monate später ein Neunzehnjähriger Erfurter mit Revolver und Pumpgun in seine ehemalige Schule stürmte und mit ruhiger Hand 16 Menschen erschoss, bevor er sich selbst die Kugel gab. Ein unauffälliger, in sich gekehrter Mensch sei er gewesen, erzählten seine Mitschüler. Auch die jungen arabischen Terroristen, die am 11. September in Amerika zuschlugen, waren ja – wie Nachbarn und Bekannte später aussagten – unauffällig gewesen, höflich sogar und hilfsbereit.

Der Wahnsinn der Gewalt ist näher gerückt. Das Abgründige verbirgt sich unter dem Schleier der Normalität. Vielleicht schlummert das Unheil gar in uns selbst?

Hubertus sagt: „Manchmal komme ich mir vor wie in einem Irrenhaus. Wenn wir nicht höllisch aufpassen, färbt das Irrenhaus auf uns ab. „

Wo es Gefahr gibt, aber keinen konkreten Feind, sind der Schreckensfantasie keine Grenzen gesetzt. Wilde Szenarien tauchen auf: Atomsprengköpfe in der U-Bahn zum Beispiel, Nervengas in den Klimaanlagen von Bürotürmen, Biobomben in den Grünanlagen der Großstädte und so weiter und so fort…

Man könnte sich fast nach der alten Sowjetunion zurücksehnen. Natürlich hatten wir Angst vor ihr, aber sie war doch wenigstens einigermaßen berechenbar gewesen. Heute haben wir es mit „Schläfern“ zu tun, netten Leuten, die ihre Brötchen womöglich bei unserem Bäcker nebenan kaufen. Wo ist der Feind? Wer ist der Feind?

Präsident Bush und die Medien haben versucht, uns Osama bin Laden als Feind schmackhaft zu machen. Irgendwie braucht das „Böse“ ein Gesicht, auf das man seine Angst projizieren kann. Aber der arabische Terroristenhäuptling mit dem freundlichen, offenen Blick, eignete sich nicht so recht für die Rolle. Er blieb ein Schatten. Weit weg. Irgendwo in der Wüste oder in unwirtlichen Bergen.

Wir haben kein richtiges Feindbild und bleiben auf unserer Angst sitzen. Und wir erleben, wie sich Angst und Gefahr gegenseitig aufschaukeln. Je mehr Angst, desto leichter fällt es Politkern, demokratische Freiheiten zu beschneiden, die Rüstung auf Touren zu bringen und  Krieg zu führen. Dabei wächst die Angst immer weiter und löst neue Konflikte aus.

Nach dem Ende des Kalten Krieges wurden in einer Zeitspanne von zwölf Jahren 200 lokale Kriege geführt, in denen mehr als 40 Millionen Menschen starben. Wir haben fast nichts davon gemerkt, obwohl uns das Fernsehen täglich mit Schreckensbildern aus aller Welt versorgt. Wir sind psychisch überfordert und schalten ab. Wir wollen mit dem Elend in der Welt nichts zu tun haben.

Der Preis, den wir für unseren Selbstschutz zahlen, ist jedoch hoch. Langsam stumpfen wir ab. Werden immer dickfälliger, passiver, unlebendiger – vor allem ängstlicher. Denn die Bilder des Grauens, die wir täglich verdrängen, verschwinden ja nicht einfach. Sie graben sich in unsere Seele ein, sie rumoren in unserem Unterbewusstsein und verdichten sich dort zu einer schwer fassbaren Ahnung von Untergang und Tod. 

Die Untergangsstimmung macht uns depressiv. Wir passen uns an, beugen uns vor den Mächtigen, geben Freiheiten auf. Angst  hindert uns daran, Neues zu wagen, aus gewohnten Gleisen auszubrechen, unser Leben zu ändern, unseren  eigenen Rhythmus zu finden, unsere Freiheiten zu leben und zu verteidigen. Wir haben nicht nur Angst vor dem Tod. Wir haben auch Angst vor dem Leben. 

In Jahrmillionen hat das menschliche Gehirn Reflexe entwickelt, die bei akuter Lebensbedrohung funktionieren – fliehen oder angreifen. Wie unsere Urväter möchten wir zur Keule greifen. Aber wir sind nicht mit einem wilden Tier konfrontiert, das uns an die Kehle springen will. Wir werden von Bildern und Vorstellungen erschreckt. Die Bedrohung ist zu abstrakt. Wir schlagen nicht zu, wir bleiben auf unserer Aggression sitzen. Und warten auf einen konkreten Anlass, sie los zu werden. Bei einem Krawall im Fußballstadion zum Beispiel. Bei einer Demonstration zum 1. Mai. Im Beziehungsstress. Bei dem jungen Erfurter, der in seiner alten Schule ein Blutbad anrichtete, war es Hass auf die Lehrer. Auch ein Atommülltransport kann willkommener Anlass sein, angestaute Wut zu entladen. Und vieles spricht dafür, dass die Neonazis und ihre Skinhead Gefolgschaft schon bald die Republik aufmischen werden.  

Kein Wunder, dass blutrünstige Actionfilme und Videogames so beliebt sind. Ängstliche und wütende Menschen können sich vor dem Bildschirm mit den Killern identifizieren, ohne selber Schaden anzurichten. Ein Verbot dieser Machwerke ist eine zweischneidige Sache, denn wir wissen doch gar nicht, wie viele wütende Teenager ihren Hass mit dem Joystick abreagieren, anstatt sich eine Waffe zu besorgen und in der Gegend herumzuballen? Die blutigen Videogames sind nur ein Symptom, nicht die Ursache von spontanen Gewaltakten.

Angreifen oder fliehen? Glücklicherweise neigen die meisten Menschen zur Flucht. Sie fliehen in ferne Ferienparadiese, in den Kaufrausch, den Egoismus, die Drogen, in die Loveparadenekstase. Aber die  Flucht-Rituale der Spaßgesellschaft erweisen sich als Vogel-Strauss-Aktivismus. Wir suchen Schutz, aber wir finden keine Sicherheit mehr. Alles, was den Menschen einst Geborgenheit und Halt gab, löst sich auf oder ist schon verschwunden. 

Die Großfamilie als Schutzkollektiv gehört der Vergangenheit an. Die Kleinfamilie entpuppt sich immer mehr als unerträgliches Neurosennest. Die Firma als Hort der Geborgenheit blieb eine Illusion. Shareholder Value triumphiert über Sozialkompetenz. Sobald der Aktienkurs nach unten tendiert, verlieren treue Mitarbeiter ihren Arbeitsplatz. Inzwischen sind es Millionen. Der Staat appelliert an die Bürger, sich selber vor Krankheit und Altersarmut zu schützen. Wer nicht mithalten kann in dieser Welt des scheinbar chaotischen Wandels, stürzt ab. Die ängstliche „Ich“-Generation hat die Solidargemeinschaft begraben. Die neue Devise lautet: Jeder für sich, keiner für alle! Wer voran kommen will im Leben, muss Altes loslassen können und sich ständig an neue Bedingungen anpassen. Das macht Angst. Und dieser Angst können wir nicht entfliehen.

Aber liegt darin vielleicht die große Chance für uns alle? Wenn wir nicht fliehen können und nicht gewalttätig werden wollen, müssen wir bewusster werden.  Wacher, aufmerksamer, lebendiger und vor allem auch mutiger.

Auf unserem Spaziergang entlang der Ostseeküste kommen Hubertus und ich zu einem alten Grenzposten der ehemaligen DDR-Volksarmee. Unterkünfte, Garagen und Schuppen sind halb verfallen. Der Wachturm ist umgekippt  und verrostet im Schatten alter Bäume. Von hier aus haben Soldaten auf Menschen geschossen, die über das Meer in die Freiheit fliehen wollten. An einer Mauer hat sich ein unbekannter Philosoph mit der Spraydose verewigt: „Wie viel Freude haben wir durch unsere Feigheit verlohren!“

Hubertus lacht: „Dem kann ich nichts hinzufügen – außer dass sich 'verloren' natürlich ohne 'h' schreibt!“ 

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