Wir können sehr viel besser sein…

Jürgen Klinsmanns Nationalmannschaft – ein Spiegel der deutschen Befindlichkeit

von Jörg Andrees Elten

Ich bin ein Fan von Jürgen Klinsmann, dem Trainer der deutschen Nationalmannschaft. Der Junge gefällt mir. Nicht nur, weil er im Fernsehen sympathisch rüberkommt. Er gefällt mir vor allem, weil er sich von einflussreichen Bedenkenträgern, Neidern und Intriganten nicht klein machen lässt. Er steckt alle Anfeindungen weg und hält eisern an seiner Linie fest. Er klotzt nicht zurück. Er bleibt freundlich und souverän, obwohl er unter gnadenlosem Erfolgsdruck steht.

 

Deutsche Autos werden zum alten Hut

In der Rüstungsindustrie setzen sich neue Technologien schneller durch, als in der sogenannten freien Wirtschaft. Geld spielt da nicht die Hauptrolle. Es wird gemacht, was gebraucht wird und was möglich ist. So fahren zum Beispiel die neuen deutschen U-Boote – die modernsten der Welt – mit Brennstoffzellen-Antrieb. Mit diesen abgasfreien Motoren können sie monatelang unter Wasser kreuzen. Wir haben also in Deutschland die Brennstoffzellen-Technologie im Griff. Warum steckt sie nicht in unseren Autos? Es gibt viele komplizierte Gründe dafür, aber der Hauptgrund, den die Autobauer bisher am liebsten nennen, heißt ganz einfach: „Zu teuer. Der Markt gibt das nicht her.“

Dieses Argument ist schon in normalen Zeiten problematisch, denn es verführt zur Bequemlichkeit und ist innovationshemmend. In einer Zeit, in der die fossilen Brennstoffe des Planeten zur Neige gehen und das Nach-Erdöl-Zeitalter schon heraufdämmert, wirkt das Argument „Der Markt gibt das nicht her“ wie eine Anweisung zum Selbstmord. Eine moderne Industriegesellschaft, die überleben will, kann in Zeiten eines Epochenwechsels die Gesetze des Marktes nicht wie religiöse Gebote verinnerlichen. Wenn wir mobil bleiben wollen – und unsere Zivilisation lebt von der Dynamik der Mobilität – müssen wir eine kriegsmäßige Anstrengung unternehmen – jetzt. Die deutsche Automobilindustrie tut aber so, als gäbe es gar keine Energiekrise. Nur unter staatlichem Zwang war sie bereit, die verheerende Umweltbelastung durch Autoabgase mit dem Einbau von Katalysatoren zu mindern. Und die Hybrid-Antriebs-Technik (Kombinierter elektro- und Benzinmotorantrieb) haben sie den Japanern überlassen, die damit auf den Weltmärkten Furore machen.

Die Japaner preschen vor

Um diese peinliche Panne zu vertuschen, stellen die deutschen Autokonzerne auf Internationalen Messen neuerdings Prototypen vor, die mit Brennstoffzellen laufen. Aber von einer Serienfertigung in naher Zukunft kann keine Rede sein. Es wird sogar Jahre dauern, bis die Deutschen den Vorsprung der Japaner eingeholt haben und ein Serienfahrzeug mit Hybridantrieb auf die Strasse bringen.

Der Markt reflektiert immer nur die momentane Situation. Erst seit die Benzinpreise explodieren und man von einer neuen Energiekrise spricht, signalisiert der Markt einen Bedarf an Fahrzeugen, die zum Teil ohne Benzin beziehungsweise Diesel auskommen. Aber weil die Deutschen erst mal nur über die unverschämten Preise an den Tankstellen meckern, im übrigen aber so weiter fahren wie bisher, macht auch die deutsche Autoindustrie so weiter wie bisher – das heißt sie baut die Autos, die sie schon immer gebaut hat. Vor allem Dieselautos, die etwas weniger verbrauchen, aber dafür die Luft verpesten.

Visionen? Fehlanzeige! Es sei denn man würde die Idee des VW-Monarchen Ferdinand Piech für eine Vision halten: er will mit der Produktion von Luxuslimousinen mehr Geld verdienen. Autos mit 500 PS Motoren für Ölscheichs, Stars, Milliardäre und andere Menschen mit labiler psychischer Konstitution. Monströse Benzinfresser und Abgasschleudern, Autos von gestern. Keine neue Technologie, sondern nostalgische Nischenidylle.

Vielleicht will Piech mit Luxusautos Geld machen, weil er voraus sieht, dass die Chinesen unseren Markt schon bald mit guten und billigen Klein- und Mittelklasseautos überschwemmen? Sieht er voraus, dass der Golf und der Passat von der chinesischen Konkurrenz bald überrollt werden?

Brennstoffzellen Autos als Stromquelle für den Haushalt

Man braucht viel Fantasie, um sich das Nach-Erdöl-Zeitalter vorzustellen. Um die Energie für die Produktion von Wasserstoff zu gewinnen, der den Brennstoffzellenmotor antreibt, müsste zum Beispiel die Stromerzeugung zu einem erheblichen Teil auf Biomasse umgestellt werden. Das würde eine weitgehende Dezentralisierung der Stromerzeugung zur Folge haben. Die Energiekonzerne würden naturgemäß Widerstand leisten, zumal jedes Fahrzeug mit Brennstoffzellenantrieb auch als Elektrizitätswerk für den privaten Hausgebrauch des Inhabers und seiner Familie eingesetzt werden kann. Die gesamte Logistik der Stromerzeugung würde auf den Kopf gestellt.

Die notwendige Umrüstung der Tankstellen und die Anpassung der Logistik würde auch die Ölmultis auf die Barrikaden treiben. Für sie ist der Jetzt-Zustand absolut ideal. Je teuerer das Benzin, desto fetter ihre Gewinne. Alle multinationalen Ölkonzerne verbuchen im Moment Gewinnzuwächse von ca. 50 %. Kurzum: die Mobilität der Zukunft kann nur gegen die Energiekonzerne und Ölmultis durchgesetzt werden. Eine gewaltige Herausforderung für die Politik. Wird sie ihr gewachsen sein? Bisher beobachten wir, dass der Einfluss der Industrie-Lobby auf die Politiker ständig zunimmt. Andererseits wird die Lobby der Autofahrer, der Ölheizungsnutzer, Fernsehzuschauer, Waschmaschineninhaber – kurz all der Menschen, deren Wohlergehen und Lebensstil von erschwinglichen Energiepreisen abhängen, die Politik unter Druck setzen.

Was tun, wenn das Benzin drei Euro kostet?

Es geht ja schon längst nicht mehr nur um die Frage, wie die Autos der Zukunft aussehen müssen, damit sie auch bei einem Benzinpreis von 3 Euro pro Liter noch kostengünstig unterwegs sein können. Es geht auch um die Antriebe von LKW's, Schiffsmotoren, IC-Lokomotiven und sogar von Flugzeugen. Der Planet verträgt die herkömmlichen Antriebe nicht mehr, denn sie zerstören die Umwelt und bringen das Klima aus dem Gleichgewicht. Und außerdem geht – wie gesagt – der Saft zur Neige, mit dem die Motoren angetrieben werden.

Die Autoindustrie müsste eigentlich der Vorkämpfer für neue Mobilitätskonzepte sein. Sie ist die wichtigste deutsche Industrie. Sie hat die stärkste politische Lobby und sie verfügt über ein Heer von guten Ingenieuren. Aber sie rührt sich nicht.

Warum gibt es keine konzertierte Aktion von Autobauern, Politikern und Wissenschaftlern mit dem Ziel, die weltweite Energiekrise als Antrieb für eine vom Erdöl unabhängige Neugestaltung unserer Mobilität zu nutzen? Könnte es sein, dass die Lobby der Energiekonzerne eine solche konzertierte Aktion verhindert? Die Entwicklung alternativer Energien gehört jedenfalls nicht zu ihren Prioritäten. Ihre ganze Aufmerksamkeit ist darauf gerichtet, die schwindenden Erdölreserven des Planeten unter ihre Kontrolle bringen.

Der große Krieg um die Ölreserven

Tatsächlich hat der große Krieg um's Öl längst begonnen. Der erste Golfkrieg gegen Irak 1991 war der Anfang. Er wurde von Präsident George Bush geführt, dem Vater des jetzigen US-Präsidenten. Der Sohn, George W. Bush, hat den zweiten Irakkrieg angezettelt. Jetzt drängt die Öl-Lobby in den USA zum dritten Krieg, dem Krieg gegen den Iran, um die Kontrolle über die iranischen Erdölfelder am Kaspischen Meer zu übernehmen.

Inzwischen glimmt die Zündschnur am Pulverfass Saudi Arabien. Wenn das erz-konservative Herrscherhaus der Sauds zusammenkracht – und vieles spricht dafür, dass das nur eine Frage der Zeit ist – gehen im Westen buchstäblich die Lichter aus. Die Saudi Monarchie sitzt auf fast einem Drittel der Welt-Erdöl-Vorräte. Die königliche Familie – es gibt mehr als 1000 Prinzen – betrachtet die Einnahmen aus dem Ölgeschäft als Privatvermögen. Die Prinzen, eine korrupte Bande von Parasiten, spekulieren mit dem saudischen Volksvermögen an den Börsen und verprassen es in Spielbanken, Luxushotels und Bordellen. Im Schatten der Öltürme schwelt derweil eine wirtschaftliche Krise. Arbeitslosigkeit und Armut breitet sich aus, jeder zweite Universitätsabsolvent hat keinen Job. Kein Wunder, dass die meisten jungen Saudis die Prinzen zum Teufel jagen wollen und den Terrorchef Osama Bin Laden wie einen Heiligen verehren.

Mein Mathelehrer pflegte zu sagen: „Schlafe ruhig weiter, wenn der Mast auch bricht, Gott ist dein Begleiter, er verlässt dich nicht.“ Nach dieser Devise verharren die Bosse der deutschen Vorzeigeindustrie offenbar im seligen Tiefschlaf. Haben sie vielleicht gar nicht die Möglichkeit, aus den bedrohlichen Zeichen der Zeit die Konsequenzen zu ziehen? Fehlt ihnen die Power, ihren Aktionären – den Shareholdern – die Dividenden zu kürzen, um mehr Geld für zukunftsträchtige Forschungs- und Entwicklungsprojekte zu mobilisieren? Oder sind die Manager handlungsunfähig, weil sie sich im Geflecht der internationalen Erdöllobby verfangen haben?

Wenn das Geld zum Maß aller Dinge wird…

Am Beispiel der Autoindustrie zeigt sich am deutlichsten, was dabei herauskommt, wenn man die Zukunft des Landes allein dem Markt anvertraut. Es geht vor allem um das schnelle Geld. Einflussreiche Milliardäre, Hedgefonds, Banken und Investmentfonds drängen die Manager der Konzerne immer energischer zu üppigen Gewinnausschüttungen. Sie messen den Wert eines Unternehmens allein daran, wie viel Geld es ausspuckt. Die Betriebstreue der Arbeitnehmer, sozialer Frieden, die Kreativität und das Know-how der Belegschaft, das Forschungspotential, Rücklagen für kritische Zeiten – all das, was den wirklichen Wert eines Unternehmens ausmacht, zählt kaum noch etwas – nur der Börsenkurs ist wichtig und der hängt weitgehend davon ab, wie viel Geld das Unternehmen in die Taschen der Aktionäre schiebt. So haben sich die Manager daran gewöhnt, vordringlich die Gier der Shareholder zu bedienen. Wenn das Unternehmen dabei drauf geht, wird es eben dicht gemacht oder von einem stärkeren Unternehmen geschluckt. Und die Manager werden natürlich mit einem „goldenen Handschlag“ verabschiedet – Abfindungen in Millionenhöhe und die Arbeiter fliegen auf die Straße.

Die Geschichte lehrt, dass eine Kultur kurz vor dem Untergang steht, wenn das Geld zum Maß aller Dinge wird.

Damit kehren wir zu Jürgen Klinsmann und zum deutschen Profi-Fußball zurück. Klinsmanns Problem besteht darin, dass er in einem total vom Kommerz beherrschten Umfeld Idealismus mobilisieren muss, um seine Mannschaft bei der Fußball-Weltmeisterschaft zum Erfolg zu führen. Im Profi-Fußball spielt Idealismus überhaupt keine Rolle. Der Profi-Fußball ist ein knallhartes Business, bei dem die Spielregeln der Globalisierung gelten.

Die führenden deutschen Fußballvereine kaufen ihre Spieler dort ein, wo sie am besten und am billigsten sind. Und so kommt es, dass man bei Bundesligaspielen oft mehr Ausländer auf dem Rasen sieht, als Deutsche. Das ist in gewisser Weise sogar gut so. Denn mit seinem Multi-Kulti-Betrieb baut der deutsche Fußball Rassenvorurteile und Ausländerfeindlichkeit ab. Wenn die Fans ihren Idolen zujubeln, ist es ihnen völlig egal, ob sie eine schwarze, braune oder weiße Hautfarbe haben. Und es kümmert sie auch nicht, ob sie einen deutschen Pass besitzen. Tatsächlich ist es so, dass beim deutschen Fußball nur noch die Fans Deutsche sind – die Mannschaften sind längst international.

Geld oder Ehre – das ist die Frage

Die Profi-Fußballer sind wie Söldner – sie schlagen sich für den, der am meisten bezahlt. Manche Stars erzielen Ablösesummen im achtstelligen Millionenbereich, wenn sie über Ländergrenzen hinweg von einem Verein zum anderen transferiert werden. Und natürlich sind alle Fußballstars Millionäre. Ihre Firma ist ihr Verein, ihr Arbeitsplatz ist das Stadion und ihr Kapital ist ihr Körper. Ängstlich müssen sie darauf bedacht sein, ihren Körper fit und gesund zu erhalten. Das erwarten ihre Trainer und Manager von ihnen – der Bänderriss eines Spitzenspielers kann sich für einen Verein in eine finanzielle Katastrophe verwandeln.

Idealismus? Den können sich Profi-Fußballer kaum leisten. Ihre Karriere spielt sich in einem engen Zeitrahmen ab. Mit 30 gelten sie schon als alte Herren, mit 35 sind die meisten weg vom Fenster.

So ist der Interessenkonflikt zwischen den Trainern des Profi-Fußballs und dem Trainer der Nationalmannschaft vorprogrammiert. Es ist der Konflikt zwischen Geld und Idealismus. Klinsmann kann keine Millionen an seine Spieler verteilen. Bei ihm müssen sie allein für die Ehre antreten – die Ehre, dabei zu sein und für Deutschland zu spielen. Den Trainern der Vereine des Deutschen Fußball Bundes (DFB) ist es dagegen vor allem wichtig, dass sich ihre Stars in der Nationalmannschaft nicht verletzen und womöglich fürs Geldverdienen ausfallen. Vor den Mikrophonen beteuern sie schon mal, dass sie die deutsche Nationalmannschaft aus vollem Herzen unterstützen. Aber die Psychologie legt nahe, dass sie Klinsmann und seine Nationalmannschaft eher als Störfaktor fürs eigentliche Geschäft betrachten.

Vielleicht liegt hier die Erklärung dafür, dass Klinsmanns Truppe in manchen Freundschaftsspielen so lahm wirkt. Hatten die Stars keine Lust, ihre Knochen zu riskieren, die doch vor allem im Kampf um den UEFA Pokal gebraucht werden, wo es um das große Geld geht?

Die Spieler bewegen sich in einem Konfliktfeld. Einerseits wollen sie in der Nationalmannschaft eine gute Figur machen. Andererseits dürfen sie eigentlich nicht allzu forsch in die Zweikämpfe gehen, weil doch ihre Brötchengeber, die DFB-Vereine, ihre gesunden Knochen brauchen. Vielleicht haben sie ständig die Stimme ihrer Vereinstrainer im Ohr: „Junge, pass bloß auf deine Knochen auf!“

Der Interessenkonflikt wird – wie könnte es anders sein – in typisch deutschem Stil ausgetragen. Kaum zeigt die Nationalmannschaft bei einem Freundschaftsspiel Schwächen, geht die Schlammschlacht gegen Bundestrainer Jürgen Klinsmann los. Der Jürgen gibt eine gute Zielscheibe ab. Er lebt nicht in Gelsenkirchen oder Leverkusen, sondern in Kalifornien. Dort hat die Experimentierfreude der Amerikaner auf ihn abgefärbt, ihre optimistische „Can-do“-Mentalität, ihre Freude am Erfolg – auch wenn es nicht der eigene ist.

Jürgen gibt sich weltmännisch. Das passt nicht so recht in den Vereinsmief des deutschen Fußballs. Plötzlich meckern die Funktionäre darüber, dass der Bundestrainer zu oft nach Kalifornien zu seiner Familie fliegt. Und dass die amerikanischen Fitnesstrainer, die Jürgen aus den USA mitgebracht hat, total überflüssig sind. Und die bayerische Fußball-Mafia um den Münchner 1.FC Bayern motzt, weil Klinsmann es gewagt hat, ihren Torwart-Heiligen Oliver Kahn einem erniedrigenden Leistungswettbewerb mit seinem Rivalen Lehmann auszusetzen. Und je mehr die Vereinsmeier gegen Klinsmann wettern, desto mehr Unruhe kommt in die Nationalmannschaft.

So bietet der Deutsche Fußball kurz vor der Weltmeisterschaft ein vertrautes Bild: jammern, meckern, Schuld zuweisen, rüpeln und intrigieren ohne Ende. Und darüber wird ganz vergessen, dass wir viel besser sein können, wenn wir nur wollen.

Jörg Andrees Elten
23.10.05