Auf Messers Schneide

„Die Natur spielt verrückt!“ sagt Nachbar Heinz, der alte Hufschmied und Kleinbauer. Er sitzt in seinem Rollstuhl am Fenster und beobachtet Touristen, die mit ihren Mountainbikes über das Kopfsteinpflaster der Dorfstraße rumpeln. „Erst die Sintflut und dann fast acht Wochen kein Tropfen Regen – so einen Sommer habe ich noch nie erlebt.“ Heinz geht auf die neunzig zu. Er trägt eine flotte Schirmmütze und hat das schnurlose Telefon griffbereit an die Brusttasche geklemmt. So verfolgt er das  Weltgeschehen im Fernsehen. „Der Bush will Krieg – eindeutig!“, sagt er und schüttelt den Kopf. Er macht sich Sorgen um seinen Enkel, der als Fallschirmjäger dient. „Hoffentlich muss der Jochen nicht da runter in die Wüste.“ Heinz kann man nichts vormachen. „In Wahrheit geht es um Rohstoffe. Ums Öl geht es. Ums Geld. Wie immer. Tausende lassen sich tot schießen, und  ein paar Leute räumen ab. Immer das gleiche. Die Menschen lernen nichts dazu.“

Aus Bogota kommt eine E-Mail von Katharina:“ Manchmal wache ich morgens mit Herzklopfen und Händezittern auf und bin überzeugt, dass der Tag gekommen ist, an dem alles zusammenkrachen wird.  Ich habe einfach Angst, dass mein friedliches und sonniges Leben nur eine Episode sein kann in diesem Chaos, das überall auf der Welt herrscht.“

Katharinas Ängste sind weit verbreitet. Täglich bombardieren uns die Medien mit Bildern, die von einem grauenhaften, fremden Stern zu kommen scheinen. Terror im Theatersaal, verwüstete Landschaften, Kindersoldaten, Strichmädchen, Massengräber, Slumviertel aus Wellblechverschlägen, halb verhungerte Kinder mit dicken Bäuchen und Fliegen in den Augen. Fast zwei Drittel der Menschheit leben von weniger als einem Euro am Tag. Und wir genießen seit Jahrzehnten einen nie dagewesenen Wohlstand und Frieden. Kann das gut gehen? Oder stimmt etwas nicht? Sind unsere fetten Weiden bedroht? Ist unsere Sicherheit trügerisch? Haben wir den satten Frieden wirklich verdient? Viele sensible Menschen haben ungute Gefühle, die sie nicht so recht definieren können. Sie fühlen sich irgendwie bedroht und meinen, sie müssten irgendetwas unternehmen. Irgendwie… irgendwas… irgendwo… Aber was?

Wir sind ratlos und desorientiert. Und haben ein schlechtes Gewissen. Die wichtigsten Probleme unserer Zeit – Zerstörung der Natur, Bevölkerungsexplosion, Verbreitung atomarer Waffen, AIDS, zunehmende Arbeitslosigkeit, globaler Terror  – all diese Probleme haben riesige Dimensionen, und wir fühlen uns viel zu klein, um daran etwas ändern zu können. Und die Politik? Die wichtigsten Entscheidungen fallen nicht im Parlament, sondern schon im Vorfeld – dort, wo die Manager der Interessenverbände mit den Spitzenpolitikern kungeln und die Fäden ziehen. Die Volksvertretung ist zum Vollzugsorgan der Lobbyisten verkommen. Die Abgeordneten kuschen unter der Knute ihrer Fraktionsvorsitzenden. Wer aufmuckt, landet im Abseits. Unter der Last einer gigantischen Staatsverschuldung und eingebunden in das  Beziehungsgeflecht außerparlamentarischer Machtgruppen, findet keine Regierung mehr die Kraft für durchgreifende Reformen. Das Volk spürt es und reagiert mit politischer Abstinenz. Wir sind keine Mitmacher mehr, wir sind eine Gesellschaft von Zuschauern.

Gleichwohl sind wir furchtbar beschäftigt. Mit Geldverdienen, Unterhaltungskonsum, Autofahren, Urlaub machen, und so weiter und so fort. Aber beschäftigt sein, heißt nicht unbedingt handeln. Handeln ist kreativ und selbstbestimmt. Beschäftigt sein, ist automatische Betriebsamkeit, die Stress erzeugt. Es gibt nur wenige Menschen, die an ihrem Arbeitsplatz frei und kreativ entscheiden können. Die meisten zittern um ihren Arbeitsplatz – auch viele Chefs. Für sie wird der Managersessel schnell zum Schleudersitz, wenn der Aktienkurs sinkt. Viele reagieren panisch und versuchen, mit Massenentlassungen ihre Haut zu retten. Für visionäres Handeln fehlt Mut und Kraft. Die meisten Arbeitnehmer fühlen sich verraten und verkauft. Haben längst abgeschaltet und „innerlich“ gekündigt.

Die passive Routine am Arbeitsplatz prägt auch das Privatleben. Es fällt uns zunehmend schwer, unser Leben auf unsere eigene Art zu gestalten. Unser Alltag – vom frühen Zähneputzen bis zum Konsum des späten Fernsehprogramms - wird von immer wiederkehrenden Verrichtungen und Reflexen geprägt. Egal wo – im Wohnzimmer oder im Fitnessstudio, im Ehebett oder im Auto -  wir handeln weitgehend vollautomatisch. Kein Wunder, dass die Werbung so unwiderstehlich ist. Je weniger Eigeninitiative wir entwickeln, desto leichter lassen wir uns zu modisch gewordenen Dummheiten verführen -  Designerklamotten kaufen, ständig und überall mit dem Handy telefonieren, Schulden machen, Face liften, Joggen bis zum Umfallen, Lotto spielen, mit dem Billigflieger ins Wochenende düsen, egal wohin, und so weiter und so fort.  Konsumieren, anpassen, Zeit totschlagen. Viele Menschen spüren, dass ihre seelische Kraft erlahmt. In wachen Augenblicken bäumen sie sich auf -  wollen kreativ sein, ihren eigenen Rhythmus leben. Und manche entdecken die Meditation.

Vielleicht besteht die größte Herausforderung unserer Zeit darin, die Automatisierung unseres Lebens zu überwinden und unsere innere Freiheit zu gewinnen. Die Voraussetzungen dafür sind gar nicht so schlecht. Denn in den gleichen Kräften, die uns immer mehr zu Robotern machen, steckt auch ein kreatives Potenzial: die Arbeitszeiten werden kürzer, die Freizeit wird länger, und wir haben die Möglichkeit, unsere freie Zeit phantasievoll zu gestalten. Von physischer Mühsal weitgehend befreit, können wir die Segnungen des wissenschaftlich-technischen Zeitalters dazu nutzen, aus unserem Planeten ein Paradies zu machen. Wir können uns überall dort einbringen, wo der Staat versagt.  Wir können uns um Alte, Invaliden und Strafgefangene kümmern. Wir können junge Menschen mit Aufgaben konfrontieren, die ihnen Spaß machen und sie von der Straße weg bringen. Wir können Biogärten auf asphaltierten Schulhöfen anlegen und mit Einwandererkindern Sport treiben und deutsch lernen. Nichts hindert uns daran – außer unser Mangel an Lebendigkeit.

Wir können im Internet surfen und uns unzensierte und ungefilterte Informationen beschaffen. Wir können im weltweiten E-Mail-Austausch unsere Erfahrungen und Ansichten zur Diskussion stellen und uns von den Einsichten anderer Menschen bereichern lassen. Wir können uns über die Mikroelektronik mit Gleichgesinnten verbünden und gemeinsames Handeln planen. Wir können über das Internet unseren Kaffee direkt von freien Genossenschaften in Afrika beziehen und unseren Bio-Tee direkt von indischen Plantagen. Wir können unsere Verbrauchergewohnheiten so verändern, dass sie zu einer gerechteren Verteilung und zur Gründung immer neuer ökologisch orientierter Betriebe führen. Wir können uns bis in die fernsten Winkel der Welt einmischen und wir können in unserer unmittelbaren Umgebung Nachbarschaftshilfen organisieren. Das Internet ist das Vehikel für die Ausbreitung eines planetarischen Bewusstseins. Millionen von Menschen sind im Begriff, Grenzen einzureißen – die Grenzen rassischer und nationaler Zugehörigkeit, die Grenzen ideologischer Vorurteile, die Grenzen der Unwissenheit. Das Internet gibt uns die Freiheit, unseren Informationshorizont auszuweiten und unsere Stimme zu erheben. Wir werden gehört, wenn wir gehört werden wollen! Und wir können hören, wenn wir hören wollen! Diese ungeheuere Freiheit kommt natürlich auch denen zu Gute, die das Internet für destruktive Zwecke nutzen wollen. Kinderschänder, religiöse und politische Fanatiker, Geistesgestörte, Terroristen, Untergangspropheten und Schwindler aller Art.

Das Internet ist neutral. Es transportiert den Wahnsinn genau so schnell und so weit wie die Weisheit. Das Internet wertet nicht, es transportiert Informationen, Ideen, Visionen, Gedanken und Gefühle. Die Energie, die in ihnen steckt, kann die Welt gründlicher verändern, als Geld und Bomben. Und die Tatsache, dass das Netz uns die Möglichkeit gibt, uns an der planetarischen Bewusstseinsbildung zu beteiligen, konfrontiert uns mit einer ungeheueren Verantwortung: wir sind nicht ohnmächtig, wir können uns einbringen! Wir haben eine Stimme, die zählt und die etwas bewegt!

Auf der Bewusstseinsebene gibt es keine Zwischenhändler, keine Volksvertreter und keine Stellvertreter Gottes. Der Einzelne kann entscheiden, ob er im weltweiten Spiel der Ideen, Visionen, Gedanken und Gefühle eine ganz konkrete Rolle spielen oder ohnmächtig abseits stehen will. 

„Was kann man machen?“ fragt Nachbar Heinz und zieht in seinem Rollstuhl die Schultern hoch. „Vielleicht soll man sich darüber freuen, dass die Sonne scheint!“ findet er. Ja, auch das ist ein Beitrag, um die Welt ein wenig wohnlicher zu machen.

erschienen in der Osho Times 12/2002