Leseprobe „Karma & Karriere“

Der Tod der Mutter

Sie schrieb mir mindestens einmal in der Woche. Oder sie besprach mit ihrer hohen, kindlichen Stimme Tonbänder für mich – 60 Minuten lockerer Small Talk über das Fernsehen, über die internationale Lage und vor allem über ihre geliebten Ärzte, die auf Kosten der Allgemeinen Ortskrankenkasse nett zu ihr waren. Dann blieben die Tonbänder aus. Meine Mutter kam mit der Aufnahmetechnik nicht mehr zurecht, und ihre Briefe wurden immer unverständlicher.
Ich flog von Kalifornien nach Hamburg, um nach dem Rechten zu sehen. Es war höchste Zeit. Als sie mir die Tür öffnete, traf mich ein feindseliger Blick. „Ich bin es!“ sagte ich und wollte sie in die Arme nehmen, aber sie wich erschreckt zurück. Erst eine Minute später erkannte sie mich. Sie zitterte, als sie mich umarmte, und ich erschrak darüber, wie alt und gebrechlich sie in den zwei Jahren geworden war, die wir uns nicht gesehen hatten.
Sie bewohnte das Gartenappartement eines schönen Eppendorfer Mietshauses. Durch die Patio-Tür trat sie unter einen Apfelbaum. Auf dem Ise-Kanal zogen die Schwäne vorbei, und wenn es auf der Elbe stürmte, fielen die Möwen in die Häuserschlucht ein, ließen sich auf dem Kanal nieder und kreischten aufgeregt.
Meine Mutter liebte ihre Wohnung. Es war romantisch hier – und einsam. Der Nachbar zur Linken war meistens verreist und die Wohnung über ihr wurde als Büro genutzt. Es wollte freilich sowieso niemand etwas mit ihr zu tun haben, denn letzthin litt sie unter Verfolgungswahn und Streitsucht. Wenn sie hier stürzen und nicht mehr bis zum Telefon kommen sollte, würde niemand ihre schwachen Hilferufe hören, und sie würde elend zugrunde gehen.
Gottlob war sie noch wach genug, um zu begreifen, dass sie hier nicht bleiben konnte. Es gelang mir, sie in einem gut geführten Altersheim unterzubringen. Dann flog ich mit unguten Gefühlen nach Kalifornien zurück.
Das Altenheim war für sie zwar keine ideale, aber unter den Umständen die beste Lösung. Sie bewohnte ein kleines Appartement mit Kitchinette und lebte mit ihren gewohnten Möbeln. „Gefällt es dir denn hier auch wirklich?“ fragte ich sie vor meiner Abreise, und sie antwortete mit der für sie typischen koketten Leidenslust: „Ach mein Herzchen, mach dir nur keine Sorgen um mich. Für die paar Jahre, die mir noch bleiben, ist es doch gut genug…“ (Ein paar Jahre früher hätte sie noch hinzugefügt: „Hauptsache, du hast es schön!“) Fortan ließ sie meine Post unbeantwortet. Sie zog sich von der Welt zurück. Es ging dem Ende zu.
Seit meinem achten Lebensjahr hatte ich nicht mehr mit ihr zusammengelebt, und über die Jahre hatten wir uns immer weiter voneinander entfernt. Ich kannte diese Frau also kaum. Ich nenne sie in diesem Buch bei ihrem Vornamen Nora. In Wirklichkeit nannte ich sie Mutti, wie es in bürgerlichen Kreisen üblich war. Unser Verhältnis sah so aus, dass ich den guten Sohn spielte und Nora die herzensgute Mutter. Die Rolle gefiel ihr gut.
Ich fürchtete mich vor ihrem Tod, weil ich mir geschworen hatte, bei ihr zu sein, wenn ihre Stunde gekommen war. Zum ersten Mal in meinem Leben würde ich dem Tod wirklich ins Auge schauen.
Vor der Auseinandersetzung mit dem Tod hatte ich mich bisher gedrückt, weil ich ahnte, dass es mit dem Tod so sein würde, wie mit der Liebe : du musst dich ausliefern, um sie zu erfahren. Sie wird dich im Kern deines Wesens treffen, und nichts wird so sein, wie es vorher war.
Noras Uhr lief ab, und ich wollte die Chance nutzen, wollte mir am Sterbebett meiner Mutter viel Zeit nehmen, wollte erfahren, wie der Tod aussieht, wie er riecht und schmeckt, und wie es sich anfühlt, wenn er näher kommt, immer näher…
Ein paar Monate vergingen und eines Tages war es plötzlich so, als hätte mich meine Mutter auf telepathisch gerufen. Ich nahm das nächste Flugzeug. Nach der Landung rief ich sie vom Flughafen aus an und sagte ihr, dass ich am nächsten Tag zum Tee kommen wollte; den Kuchen würde ich mitbringen.
Als ich ins Heim kam, schaute sie mich fassungslos an, war unfähig, mich zu begrüßen, stand in der Mitte ihres Zimmers, drehte sich langsam im Kreis, murmelte Unverständliches und brauchte fast eine Stunde, um ihr seelisches Gleichgewicht wiederzufinden. Ich verteilte den Kuchen und beobachtete erschreckt, dass sie kaum noch fähig war, ohne Hilfe zu essen. Sie schaute mir in die Augen und sagte: „Ganz schön beschissen, wenn man alt und klapprig wird! Ich sag''s dir…
Nach dem Tee fuhr ich mit ihr an die Elbe, wo sie immer so gerne spazieren ging. Aber nun konnten wir uns kaum hundert Schritte vom Auto entfernen. „Las uns hier sitzen“, flüsterte sie und setzte sich auf eine Bank am Ufer. „Ich bin müde“. Am Abend nahmen wir das Essen gemeinsam mit den anderen Heimbewohnern im Speisesaal ein. Als die Heimleiterin das Tischgebet sprach und alle den Kopf über die gefalteten Hände senkten, straffte Nora den Rücken und starrte mit undurchdringlichem Blick auf den Kronleuchter.
Sie war kein frommer Mensch. Die Kirchen hielt sie für Schwindel-Unternehmen, die aus der Religiosität der Massen ihr Kapital schlagen, und die Pfarrer nannte sie nur „diese Schleimscheißer“. Sie hatte es mit der Wissenschaft und versäumte keine wissenschaftliche Sendung im Fernsehen, besonders wenn es um Astronomie ging. Sie wurde noch vor dem 1.Weltkrieg ins Gymnasium eingeschult und empfing dort ein Weltbild, das von der Mechanik des Isaac Newton und von der Vernunft des René Descartes geprägt war. Geist und Materie waren getrennt. Der Mensch ist Materie und vergeht, Staub zu Staub. Der Geist ist ER, der das Universum in Schwung hält und im übrigen keine Zeit hat, sich um das Schicksal des Einzelnen zu kümmern. Auch der liebe Gott im Himmel war für sie ein ausgemachter Schwindel, bestenfalls ein Kindermärchen. Sie glaubte an gar nichts. Manchmal versuchte ich ganz vorsichtig, mit ihr über das zu sprechen, was nach dem Tod kommt. Aber solche Versuche schmetterte sie gereizt ab: „Das ist doch alles Quatsch! Ich bin Realist!
Sie hatte offenbar keine Angst vor dem Tod. Schon vor Jahren hatte sie sich telefonisch mit dem „Herrn Direktor“ des Krematoriums im Hamburger Friedhof Ohlsdorf verabredet. Sie wollte wissen, was die Sache kostet („für mich kommt nur die einfachste Version infrage!“), ob man rechtzeitig buchen muss, und wie so eine Leichenverbrennung überhaupt abläuft. Der Krematoriumsdirektor (sie hatte es immer mit den Direktoren; mit einfachen Angestellten wollte sie nicht ihre Zeit verschwenden) der Herr Direktor also hatte ihr die Technologie der Leichenverbrennung erklärt, hatte schließlich sogar die Brennkammer für sie geöffnet, damit sie ihre Nase da hineinstecken konnte. Und während sie sich in der Kammer umsah, kommentierte der Direktor: „Sie kommen aus dem Kühlraum direkt hier auf den Rost. Wir brennen Gas und erhitzen auf über 1000 Grad. Die Asche wird dort unten in einem Behälter aufgefangen – von hier aus können Sie den nicht sehen. Das meiste fällt durch den Rost, aber ein paar Knochenreste bleiben immer übrig…“ An dieser Stelle zog Nora pikiert den Kopf zurück und unterbrach den Herrn Direktor: „So genau wollte ichs nun auch wieder nicht wissen!“
Ich musste nach zwei Tagen nach Italien fliegen. Frau Kosanke, die Heimleiterin, versprach mir, auf Nora besonders gut zu achten. „Ihre Frau Mutter macht es uns aber leider gar nicht leicht“, klagte sie und hob den Blick vielsagend himmelwärts.“ Seit Wochen schon gibt sie keine Wäsche mehr zur Wäscherei. Sie glaubt, sie wird ihr gestohlen.“
Ich war kaum in Rom, da rief Frau Kosanke aus Hamburg an: „Ihre Frau Mutter ist im Badezimmer gestürzt. Sie hat sich nur leicht verletzt, aber wir vermuten, dass es ein Schlaganfall war.“ Ich erfuhr, dass man Nora in ein Krankenhaus am Hamburger Stadtrand eingeliefert hatte.
Am nächsten Tag trat ich in ihr Krankenzimmer. Sie lag in dem Bett gleich hinter der Tür. Ihre Augen waren geschlossen. Die beiden alten Damen, die in den anderen Betten lagen, schauten mich neugierig an und freuten sich: „Das muss der Herr Sohn sein!“ schrillte die Dame am Fenster. Nora öffnete die Augen und brauchte eine Weile bis sie mich erkannte. Ihr Gesicht hellte sich auf, sie atmete tief ein, schloss die Augen und flüsterte kaum hörbar: „Mein Herzchen… endlich!“ Ich beugte mich über sie. Die Dame am Fenster schrillte: „Jeden Tag hat sie uns von Ihnen erzählt!“ Dann wandte sie sich an Nora: „Jetzt sind sie aber froh, was, Frau Elten?“ Und Nora lächelte.
Ich ging noch einmal hinaus, um eine Vase für meine Blumen zu besorgen. „Gebense mal her!“ rief Schwester Gerda, die blonde Beauty von Station B, und riss mir die Blumen im Vorbeigehen aus der Hand. Als ich in das Krankenzimmer zurückkehrte, war Nora eingeschlafen. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck seliger Gelöstheit. Ich setzte mich an ihr Bett und legte meine Hand auf ihre.
„Sie kommen aus Kalifornien?“ rief die Dame am Fenster. „Immer gutes Wetter, was?“ Ich stellte mich taub.
Die Tür flog auf, und die junge, hübsche Schwester Gerda kam mit meinen Blumen. „Na, Frau Elten, da freuen wir uns aber, dass Ihr Sohn da ist, was?“ rief sie und rammte die Vase auf den Nachttisch. Nora stellte sich schlafend. „Gucken''se doch mal, Frau Elten!“ schrie Gerda jetzt. „Gucken''se doch mal die schönen Blumen! Die hat Ihr Sohn mitgebracht!“
Ein kaum merkliches Zucken um die Stirnfalte signalisierte, dass Nora ungehalten war, aber sie öffnete die Augen nicht. Und ehe ich michs versah, beugte sich Schwester Gerda über das Bett und gab der Sterbenden zwei Klapse auf die Backen. „Frau ELTEN! Hören Sie mich?“
„Moment mal!“, sagte ich und zog die Schwester an ihrem Gürtel zurück. „Lassen Sies mal gut sein, Schwester, okay?“ Schwester Gerda drehte sich überrascht nach mir um, zuckte beleidigt mit den Schultern und verschwand. „Die gute Schwester Gerda!“ rief die Dame am Fenster. „Immer so fleißig und so tüchtig!“
Nora schlief wieder ein. Ich blieb bei ihr und die Gedanken flogen zurück in die Vergangenheit. Seit Siegmund Freud den Ödipuskomplex als die Ursache fast aller unserer Neurosen entdeckt hat, sagen die Psychologen, dass alle Knaben mit ihren Müttern und alle Mädchen mit ihren Vätern schlafen wollen.
Wie war das mit uns beiden – mit Nora und mir?
Ödipus-Schnödipus… Ich glaube es stimmt! Ich war verknallt in meine Mutter! Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie herrlich ich sie fand, wenn ich, drei oder vier Jahre alt, neben ihr im offenen Auto saß. Mein Vater – Ingenieur und Technik-Freak – hatte einen champagnerfarbenen „Röhr“ gekauft, eines der ersten stromlinienförmigen Kabrioletts der Welt, und meine Mutter hatte in meinem Geburtsjahr den Führerschein gemacht. Sie saß am Steuer, den Kopf ein wenig zurückgeneigt, ein triumphierendes Lächeln auf dem Gesicht. Ihre blonden Haare glänzten wie ein Kometenschweif im Sonnenlicht, und ich war berauscht von ihrer Schönheit, vom Tempo des Autos, vom Wind, der mir um die Ohren pfiff. Ich saß neben ihr und bewunderte sie, mehr noch: ich war in Ekstase!
Diese Autofahrten mit ihr waren noch schöner und aufregender als die Stunden, die wir zusammen im Bett verbrachten. Ich kuschelte mich an ihren kleinen Busen und sie las mir aus „Bambi“ vor. Ich erinnere mich an die Wärme ihres Körpers, an den Duft ihres Parfums, an ihren kleinen Busen, auf den ich meinen Kopf so gerne bettete. Ich erinnere mich auch daran, dass sie mich manchmal heftig an sich zog und mich mit herzhaften Küssen und einem „jetzt-mußt-du-aber-schleunigst-ins Bett“ in mein Zimmer entließ, und ich erinnere schließlich, dass ich sie in einen Ringkampf verwickelte und so lange an der feinen Spitze ihres Nachthemds zerrte, bis sie schließlich aufstand und mich zu Bett brachte.
Mein Vater kam in der Beziehung zwischen meiner Mutter und mir überhaupt nicht vor, wenn ich das recht erinnere. Er war wohl zu der Zeit schon auf andere Frauen fixiert, und ich glaube, dass das Sexuelle in seiner Beziehung zu meiner Mutter nur eine nebensächliche Rolle gespielt hat. Er war stolz auf mich, wenn ich keine Angst hatte und mir bei Schlägereien mit älteren Jungs eine blutige Nase holte. Und er war nicht nur enttäuscht, sondern richtig böse darüber, dass ich seine Leidenschaft für technische Basteleien nicht teilte. Ich fürchtete seinen Jähzorn, aber er konnte auch sehr warmherzig sein.
Meine Mutter hat mir diesen Mann weitgehend vom Hals gehalten. Wahrscheinlich war ich ein Muttersöhnchen und wäre es mein Leben lang geblieben, wenn meine Eltern sich nicht hätten scheiden lassen und wenn das Sorgerecht (ungerechterweise, muss ich sagen) nicht meinem Vater zugefallen wäre. So landete ich mit neun Jahren auf der Napola, einem Nazi-Elite-Internat, und aus dem Muttersöhnchen wurde ein „Jungmann“.
Ich weiß nicht wie lange ich in Gedanken versunken am Bett meiner Mutter saß. Ihr Abendessen blieb unberührt und wurde schließlich abgeräumt. Ich vertrat mir auf dem Korridor die Beine und die Nachtschwester Erika, eine rundliche, sanfte Frau, leistete mir für eine Weile Gesellschaft. Wir standen vor dem Fenster und schauten in die Nacht. Schwester Erika sagte: „Ihre Mutter hat immer wieder nach Ihnen gefragt. Es war so, als ob Sie Ihnen etwas wichtiges sagen wollte…“ Sie unterbrach sich und schaute mich nachdenklich von der Seite an. „Oder vielleicht hatte sie eine Frage an Sie, die sie nicht mit ins Grab nehmen wollte?“
„Schon möglich“, sagte ich und dachte darüber nach, was Nora wohl auf dem Herzen haben mochte. Meine Gefühle für sie hatten sich längst in ihrer kühlen Auro verflüchtigt. Seit vielen Jahren behandelte ich sie wie eine Fremde – höflich und auf herzlose Weise herzlich. Dennoch blieb ich ihr immer nahe und ich fühlte mich nicht wohl, wenn ich ihr länger als zwei Wochen nicht geschrieben hatte. Als ich noch in Hamburg lebte, besuchte ich sie jede Woche einmal zum Tee. Unter der Tür nahm sie mir die Blumen mit den immer gleichen Worten aus der Hand: „Diese-wunderschönen-Blumen-was hast-du-denn-bloß-wieder-für-Geld-ausgegeben!“ Von dem Augenblick an redete sie und redete, und wenn ich anfangs noch gelegentlich versuchte, einen Dialog zustande zu bringen oder wenigstens ein Wort einzuwerfen, funkelte sie mich empört an: „ Unterbrich mich doch nicht dauernd!“ Tief drinnen spürte sie vielleicht, dass sie meiner Liebe nicht sicher sein konnte, und aus dieser Unsicherheit kam gewiss ihre Angewohnheit, mich wie einen Säugling zu behandeln. „Pass auf, wenn du über die Straße gehst, es gibt so viele Verrückte am Steuer, erkälte dich nicht, zieh den Bauch ein, putz dir doch mal die Nase und so weiter und so fort.
An ihrem Sterbebett wollte ich Nora zeigen, dass ich sie liebte.
Und was hatte sie mir zu sagen? Hatte sie entdeckt, dass ihre Liebe zu mir in Wirklichkeit Eigenliebe war?
„Als Nachtschwester sieht man viel und hört man viel“, sagte Schwester Erika und beobachtete die Regentropfen, die träge an der Scheibe herunterrieselten. „Viele Mütter sterben allein. Sie fragen nach ihren Kindern. Aber die lassen sich nicht sehen. Und dann höre ich zu. Manchmal sitze ich stundenlang und die Mütter erzählen mir, was sie falsch gemacht haben, mit sich und mit dem Mann und mit den Kindern. Und dann weinen sie und wollen alles wieder gut machen. Aber es ist zu spät. Die Kinder wollen nichts mehr von ihnen wissen…“
Schwester Erika hatte natürlich Recht. Ich war vor allem deshalb bei meiner Mutter, weil ich mit ihr aufarbeiten wollte, was zwischen uns unerledigt geblieben war. Nichts sollte ihren Frieden stören, und ich wollte darauf achten, dass meine Beziehung zu dieser Frau vor ihrem Ende harmonisch aufgelöst wurde. Ungute Gefühle, Verletzungen, schlechtes Gewissen, Zorn, Sehnsüchte und Wünsche verschwinden nicht, wenn man sie mit ions Grab nimmt. Sie sind psychische Energie und die Physiker sagen uns, dass Energie nicht verschwindet, sondern umgewandelt wird. Die Energie des Unerledigten existiert also weiter. Wo bleibt sie? Wahrscheinlich treffen sich die Hindus mit den Physikern, wenn sie sagen, dass die Energie, die in unerledigten Konflikten steckt, uns in die nächste Inkarnation katapultiert. Erst wenn alle Konflikte aufgearbeitet sind, so sagt der Osten, wenn sich die Konfliktenergie in Bewusstseinsenergie umgewandelt hat, sind wir mit dem Universum in Einklang und springen aus dem Samsara heraus, aus dem sich ewig drehenden Rad von Tod und Geburt.
Ob ich wohl meiner alten Dame schon einmal in einem früheren Leben begegnet bin? Und wer weiß – vielleicht werde ich im nächsten Leben ihre Mutter sein, oder gar ihr Liebhaber! Die Vorstellung amüsierte mich, dass wir uns das nächste Mal als Liebespaar begegnen könnten. Ich würde ihr ganz schön auf die Nerven gehen!
„In der Weihnachtszeit wird es hier immer schlimm,“ sagte Erika. „Dann laden die Leute ihre Kinder hier ab, damit sie ungestört in den Ski-Urlaub fahren können“.
„Soll das ein Witz sein?“ fragte ich ungläubig.
„Kommen Sie zu Weihnachten und sehen Sie selbst!“
Das Krankenhaus lag in einem Feine-Leute-Vorort, in dem ich vor vielen Jahren auch mal gewohnt hatte. Ich kannte das emotionale Klima in dieser Gegend, aber Eltern, die ihre Kinder ins Krankenhaus stecken, damit sie sich selber im Urlaub besser amüsieren können, waren mir damals nicht begegnet. Das musste ein neuer Trend sein.
„Warum sollen die Kinder ans Sterbebett der Eltern kommen“, sinnierte Schwester Erika, „wenn sie von den Eltern zur Weihnachtszeit ins Krankenhaus abgeschoben worden sind?“
Und ich dachte: Lieblose Eltern ziehen lieblose Kinder auf, die ihre Lieblosigkeit dann wieder an ihre Kinder weitergeben. So vererbt sich psychisches Leid von einer Generation auf die nächste, bis es schließlich unerträglich wird und in roboterhafte Gefühllosigkeit ausartet. Der Mensch als Automat.
Es war kurz vor Mitternacht. Ich fuhr mit dem letzten Bus nach Eppendorf, wo ich bei Freunden wohnte. Am frühen Morgen kehrte ich ins Krankenhaus zurück. So ging es nun Tag für Tag. Und mit jedem Tag wurde die Spannung am Sterbebett meiner Mutter größer, denn Nora verweigerte das Essen und wollte auch nicht künstlich ernährt werden.
Es wäre sinnlos gewesen, Gerda davon überzeugen zu wollen, dass meine Mutter ein Recht darauf hatte, zu ihren eigenen Bedingungen zu sterben. Die vielbeschäftigte Schwester hätte kein Verständnis dafür gehabt. Ich aber fühlte mich verpflichtet, meiner Mutter zu helfen.
Ich erinnerte mich an einen herbstlichen Nachmittag, als wir in ihrer Wohnung Tee tranken. Sie stocherte mit der Kuchengabel in einem Stück Sahnetorte und sagte: „Nach dem ersten Schlaganfall mache ich Schluss! Ich habe keine Lust, wie eine Gurke im Rollstuhl zu sitzen. Und auf keinen Fall will ich in einem Pflegeheim landen.“
„Und wie willst du Schluss machen?“, fragte ich. Sie lächelte triumphierend, so als freue sie sich schon darauf, den Ärzten und Schwestern ein Schnippchen zu schlagen: „Ganz einfach! Ich höre auf, zu essen. Nach einer Woche bin ich tot. Das geht ganz schnell.“
Ich hatte ihr damals versprechen müssen, dass ich ihr dabei helfen würde. Nun war es so weit.
Man hatte ihr das künstliche Gebiss herausgenommen, sodass die Lippen keinen Halt mehr fanden und der Mund sich zu einer kleinen Öffnung verengte. Am Morgen hatte ich bemerkt, dass das Gebiss verschwunden war, und als ich Gerda danach fragte, hatte die tüchtige Schwester mich kokett am Ärmel gezupft und gesagt: „Aber Herr Elten, das braucht sie doch nicht mehr!“ Das Gebiss war im Mülleimer gelandet. Niemand auf Station B zweifelte daran, dass Nora Elten ausgebissen hatte.
Umso merkwürdiger erschien mir der unnachgiebige Eifer, mit dem Schwester Gerda die Sterbende zum Essen bringen wollte. Immer wieder rauschte sie mit dem Tablett ins Zimmer und rief noch auf der Schwelle: „Jetzt gibt''s ein feines Happihappi, Frau Elten! Das wird uns aber schmecken!“
Meine Mutter schloss die Augen und zog den Mund zusammen. Es war ein Machtkampf zwischen Schwester und Patient. Anfangs beobachtete ich ihn mit einer fast perversen Genugtuung: ich war sicher, dass selbst ein so hartes Kaliber wie Schwester Gerda sich an meiner Mutter die Zähne ausbeißen würde.
Aber als Schwester Gerda eines Tages versuchte, meiner Mutter den Löffel gewaltsam zwischen die Kiefer zu rammen, fiel ich ihr in den Arm und machte dem Krieg mit einem energischen „Schluss jetzt!“ ein Ende. Schwester Gerda schaute mich fassungslos an: „Wollen Sie ihre Mutter denn verhungern lassen?“
Sie gehorchte dem Ethos ihres Berufs. Für eine tüchtige Krankenschwester ist der Tod das letztendliche Übel, das man mit allen Mitteln bekämpfen muss. Ein Patient, der sterben will, gilt als nicht ganz zurechnungsfähig. Und so wird er in einen Kriegsschauplatz verwandelt, auf dem der Kampf gegen den Tod auch gegen seinen Willen bis zum bitteren Ende fortgeführt wird - einen Waffenstillstand gibt es nicht.
Es war an der Zeit, mit der Stationsärztin zu verhandeln. Als Frau Dr. Lange, eine schlanke, schöne Frau, 4O Jahre alt, früh ergraut, aber mit frischem, neugierigem Blick. zum ersten Mal zur Visite kam, bat ich sie um ein Gespräch unter vier Augen. Sie holte mich nach ihrem Rundgang an Noras Bett ab. Wir gingen über das blankpolierte Linoleum des Korridors. Ich erzählte ihr, was Nora mir vor Jahren anvertraut hatte und bat sie, mit den Schwestern zu sprechen. „Die Frau will sterben“, sagte ich. „Und die Schwestern sollten sich da nicht einmischen!“
Frau Dr. Lange beobachtete mich scharf, so als wollte sie meine Motive erforschen. Schließlich versprach sie, den Schwestern bescheid zu sagen. Sie blieb stehen und strich mit der Hand über die Augen. Zwölf Stunden Nachtdienst lagen hinter ihr, und sie sah erschöpft aus. „Die meisten Angehörigen wollen den Tod ihrer Lieben so lange wie möglich hinauszögern“, sagte sie. „Und viele erwarten Wunder von uns. So tun wir manches, was den Patienten wenig hilft; aber es beruhigt die Angehörigen, verstehen Sie?“
Ich war erleichtert: „Mir brauchen Sie nicht zu imponieren!“
„Wir bewegen uns auf dünnem Eis.,“ sagte die Ärztin wie zu sich selbst. „Wir unternehmen nichts, was den natürlichen Prozess des Sterbens aufhält. Aber es kommt vor, dass die Lebensgeister zurückkehren – manchmal nur für Tage. Und dann wird es schwierig, den Willen der Patientin zu respektieren. Unterlassene Hilfeleistung ist strafbar, das wissen Sie ja wohl?“
„Keine Sorge“, sagte ich, „Meine Mutter wird Ihnen schon deutlich machen, dass sie Ihre Hilfeleistung ablehnt.“ Die Ärztin lächelte:“ Viel Glück!“ Sie war auf meiner Seite, aber was würde der Chefarzt sagen, und wie würde die Stimmung im Schwesternzimmer sein?
„Übrigens legen wir Ihre Mutter ins Ärztezimmer“, sagte Frau Dr. Lange. „Da können Sie mit Ihrer Mutter alleine sein.“
Eine halbe Stunde später manövrierte David, der junge Krankenpfleger, das Wasserbett der Sterbenden durch die Tür des Ärztezimmers. „Mit der Wassermatratze haben''Se Glück gehabt. Wir haben nämlich nur zwei“, sagte er kurzatmig, denn das Bett wog schwer. „Wenn die Frau Bayer heute morgen nicht gestorben wäre, hätten''Se noch lange darauf warten können.“ Ich dachte: O Gott, ob Nora das wohl gehört hat?
„Die andere Wassermatratze hat der alte Hinrichs“, keuchte David und zog die Bremsen des Sterbebetts an. „Und unser Opa Hinrichs denkt gar nicht daran, zu sterben.“
Das Ärztezimmer bildete für das Drama des Todes eine unromantische Kulisse, und ich bemühte mich, den Raum ein wenig wärmer und lebendiger zu machen. Wenn es dunkel wurde, zog ich die Lampe herunter, die an dem Büroschreibtisch angeschraubt war, und richtete sie auf den goldenen Fenstervorhang. So entstand ein freundliches Licht. Auf dem Sideboard zur linken hatte ich eine Kerze aufgestellt, und auf einem Tonbandgerät spielte ich Georg Deuter Musik ab – das tiefe Echo heller Sphärenklänge, der monotone Atem der Meeresbrandung, das quirlige Gezwitscher tropischer Vögel, der sanfte, eindringliche Ton einer tanzenden Flöte…
Das Sterbebett stand mitten im Raum zwischen dem Sideboard und einer mit grünem Kunstleder bezogenen Untersuchungspritsche, auf der ich mich nachts ausstreckte. Am Kopfende stand ein Büroschrank mit offenen Fächern für medizinische Bücher, zum Beispiel „Die Therapiefibel der Inneren Medizin“ von Moeschlin und Kümmerle und Goessens. Und die „Therapie der Nebenwirkungen“ 2. Auflage. In dem Fach darüber stand eine blütenförmige Vase aus Gussglas, in der eine Osram-Birne aufbewahrt wurde. Das einzige Schmuckstück im Ärztezimmer war ein Wandkalender. Auf dem Dezemberblatt war die von Heiligen und Engeln eingerahmte Sonnenuhr auf der Fassade des Prager Rathauses abgebildet.
Durch die Thermopeinscheiben des Klappfensters fiel der Blick auf die pralle, herbstliche Farbenpracht hoher Eichen. Hinter dem bewaldeten Hügel navigierten Ozeandampfer durch die Untiefen der Elbe, und manchmal war der dumpfe, langgezogene Ruf eines Nebelhorns zu hören.
Warum gibt es in unseren Krankenhäusern keine Sterbezimmer, in denen wir den Übergang vom Diesseits ins Jenseits als ein festliches Ereignis erleben können? Ich stelle mir einen freundlichen Raum mit gewölbter Decke vor – Kerzenlicht, der Geruch von Räucherstäbchen, leise Musik aus Stereolautsprechern, magisch beleuchtete Aquarien mit bunten, exotischen Fischen, viele Blumen…Das Bett der Sterbenden steht in der Mitte des Raumes. In der dunklen Wölbung der Decke glitzern kleine Halogenbirnen wie Sterne in einer klaren Tropennacht. Die Angehörigen und Freunde sitzen im Kreis um das Bett, erzählen Anekdoten aus dem Leben der Sterbenden, lesen Geschichten vor, machen Musik, singen, lachen, tanzen sogar. Keine Beichte, keine Heiligtuerei, kein Wehklagen, keine sorgenzerfurchten Ärztegesichter, keine bedrückte Sprachlosigkeit. Der Tod wird gefeiert wie das Leben.
Ich erinnerte mich an einen Tag in der nepalesischen Tempelstadt Pashipatinath. Ich saß am Fluss im Schatten eines Banjambaumes. Am anderen Ufer breitete sich die Tempelanlage des Gottes Shiva aus. Mannshohe, in grauen Stein gehauene Phallussymbole ragten aus üppigen Marihuanabüschen hervor. Es war ein milder Morgen. Geier kreisten in einem tiefblauen Himmel. Die Sonne stand noch dicht über dem Horizont, und vom Fluss her kam ein angenehm kühler Wind. Ein nackter Saddhu stand am Ufer, schön wie ein Gott. Er schöpfte Wasser mit einem Blechnapf, goss es über seinen dunkel glänzenden Körper, seifte sich ein, spülte sich ab, hängte seine zottigen, langen Haare in den Fluss, trocknete sich mit einem weißen Fetzen ab und rieb seinen Leib, das Gesicht und die Haare mit weißer Asche ein. Er bewegte sich langsam, fast träge , aber mit präziser Bewusstheit, wand ein Tuch um seine Hüften, stopfte den Blechnapf in einen Leinensack, warf ihn über die Schulter, hob einen knorrigen Stock vom Boden auf und ging mit langen, elastischen Schritten davon.
Ein paar Frauen kamen zum Fluss, balancierten Wäschekörbe auf dem Kopf, schnatterten fröhlich, ließen sich am Ufer nieder, hoben die Röcke hoch, knoteten sie in der Hüfte fest, stiegen bis zu den Knien ins Wasser und begannen, zu waschen. Von einer Steinbrüstung sprangen nackte Kinder ins Wasser, planschten, lachten, balgten sich – und keine zehn Schritte entfernt stellten zwei junge Männer eine Bambuspritsche am Ufer ab. Auf der Pritsche lag ein alter Mann, nur mit einem Laken bedeckt, und starb. Die beiden jungen Männer, wahrscheinlich seine Söhne, hockten sich neben die Pritsche und fächelten dem Sterbenden mit einem Palmenwedel die Fliegen vom Gesicht. Das Lachen der Kinder, das Geschnatter der Wäscherinnen, hin und wieder das „Kraak Kraak“ der kreisenden Geier – sonst war es ganz still.
Nach etwa einer Stunde kamen noch mehr Angehörige des Sterbenden mit einem Ochsenkarren zum Fluss. Der Karren war mit Brennholz beladen. Die Angehörigen luden die Scheite ab und schichteten sie neben dem sterbenden alten Mann kunstvoll zu einem Scheiterhaufen auf. Die Kinder spielten weiter. Die Frauen wuschen ihre Wäsche. Der alte Mann starb. Die beiden jungen Männer hoben die Leiche von der Pritsche und legten sie auf den Scheiterhaufen. Frauen streuten Blumen über den Toten, dann wurde er mit Scheiten zugedeckt. Ein hagerer, grauhaariger Mann, wahrscheinlich der Bruder, goss Kerosin über das Holz. Einer der Söhne tauchte einen Stoffballen. der an einem Stock befestigt war, in die Kerosinkanne. Der andere Sohn zündete den Ballen an, und dann züngelten auch schon die Flammen aus dem Scheiterhaufen hervor und schickten eine graue Wolke über die badenden Kinder im Fluss. Ich saß am Ufer ohne Gedanken. Die Zeit war stehen geblieben und verlor sich in einer hellen, friedlichen Ewigkeit.
Einen solchen Tod hätte ich meiner Mutter gewünscht. Aber nun war ich schon froh darüber, dass ich mit ihr wenigstens in diesem Ärztezimmer allein sein konnte. Während ich die Hand der Sterbenden hielt, spürte ich den Rhythmen des Todes. Manchmal schien der Tod greifbar nahe zu sein, sodass ich glaubte, meine Mutter habe sich ihm schon in den Arm geworfen. Dann zog er sich wieder zurück, und meine Mutter brachte mit schwachen Signalen zum Ausdruck, dass sie sich noch in dieser Welt befand. Aber das Jenseits schien mit dem Diesseits zu verschmelzen. Der hauchdünne Schleier, der die beiden Welten bisher für mich noch getrennt hatte, verschwand, und zum ersten Mal erlebte ich die fundamentale Einheit von Leben und Tod.
Nora pendelte zwischen den beiden Ufern hin und her, und manchmal glaubte ich, dass sie auf der anderen Seite bleiben würde. Dann beugte ich mich über sie, um ihren Atem zu spüren. Die Atmung war so flach, dass ich sie nicht mehr wahrnehmen konnte. Ich legte meinen Kopf auf ihre Brust und lauschte: da war es, das starke Herz und schlug kräftig und regelmäßig 64 mal in der Minute!
Tagelang gab Nora mir kein Zeichen dafür, dass sie noch bei mir war, und dann überraschte sie mich mit einer geradezu sensationellen Präsenz: Gerda kam mit dem Fieberthermometer, als ich gerade im Begriff war, zu einem Spaziergang aufzubrechen. „Ich gehe einen Moment an die frische Luft!“, sagte ich zur Schwester, und fast im gleichen Augenblick hörte ich die Stimme meiner Mutter – laut und klar: „Wenns draußen kalt ist, kommst du aber sofort zurück!“ Die Schwester kommentierte trocken: „Mensch, das kann ja wohl nicht wahr sein!“
Als ich vom Spaziergang zurückkehrte, hatte Gerda sich hinter meinem Rücken mit einer Schnabeltasse angeschlichen und versuchte gerade, meiner Mutter eine hochkarätige „Astronautensuppe“ einzuflößen. Meine Mutter machte den Mund nicht auf, die Suppe lief in den Kragen ihres Nachthemds, und ich musste ziemlich energisch werden, um Gerda zur Aufgabe zu zwingen. Im Schwesternzimmer war die Sache nun klar: Ich wollte meine Mutter so schnell wie möglich ins Grab bringen, um endlich an die Erbschaft heranzukommen! Und Frau Dr. Lange steckte mit mir unter einer Decke!
Ich übernachtete jetzt im Krankenhaus und schlief auf der grünen Untersuchungspritsche. Manchmal wachte ich auf, schaltete das Nachtlicht an und sah, dass Nora nicht schlief. Ihre Augen waren blau und unergründlich wie die Tiefen des Roten Meeres, die ich auf meinen Taucherexpeditionen in Ägypten bestaunt hatte. Ich sprach sie an, aber sie reagierte nicht. Kannte ich diese Frau überhaupt, die da neben mir lag und seit 29 Tagen die Nahrung verweigerte? Sie schien nicht zu leiden. Woher nahm sie die Kraft für diesen selbstmörderischen Hungerstreik?
Morgens kam Frau Dr. Lange zur Visite. Sie schaute auf die Fieberkurve. Die erhöhte Temperatur der vergangenen Woche war auf normale 36.8 Grad abgeflaut. Der Blutdruck war stabil. Das Herz schlug kräftig. „Das ist jan Ding“, sagte die Ärztin und lächelte hilflos. Ich spürte, dass sie von Tag zu Tag unsicherer wurde. Nichts ist für einen Arzt schwerer, als gar nichts zu tun und der Natur ihren Lauf zu lassen. „Wenn sie essen will“, sagte sie, „müssen wir ihr natürlich was geben.“
„Aber sie will doch nicht!“ sagte ich. Frau Dr. Lange schaute nachdenklich auf meine Mutter herab. „Ja, das ist es ja“, sagte sie wie zu sich selbst. „Aber wir müssen sie immer wieder fragen.“
„Und was hätte sie davon, wenn wir sie wieder aufpäppeln?“
Frau Dr. Lange blieb die Antwort schuldig und schaute grüblerisch in den nebligen Herbstmorgen. Innerhalb von zwei Wochen war das Laub abgefallen, und durch das nass glänzende Geäst der Eichen fiel der Blick in ein graues Nichts.
„Wie haben Sie geschlafen?“, fragte sie, um das Thema zu wechseln.
„Nicht besonders“.
„Ich habe auch nicht gut geschlafen. Nachtdienst“.
Sie hatte blaue Schatten unter ihren hellen, aufmerksamen Augen, die manchmal etwas spöttisch in das Krankenhauselend blickten. „Es war Krise am laufenden Band“, sagte sie. „Ich raste von einem Bett zum anderen. Als ich dann um halb zwei ins Bett fiel, hatte ich ganz dicke Füße. Und um sechs gings schon wieder weiter“. Sie tippte mit dem Finger auf das Tonbandgerät: „Schöne Musik haben sie! Am liebsten würde ich hier bleiben.“ An der Tür wandte sie sich noch einmal um : „Tschüß!“
Ich setzte mich an Nora´s Bett und beugte mich dicht an ihr Ohr. „Hast du Hunger?“ fragte ich. Sie runzelte die Stirn und bewegte ganz langsam den Kopf hin und her. Also kein Hunger!
Sie atmete tief durch, versuchte, mich anzuschauen, konnte aber ihren Blick nicht konzentrieren. Ihre Lippen zitterten kaum merklich. Sie wollte etwas sagen, sammelte sich, nahm einen neuen Anlauf. Ich legte mein Ohr an ihre aufgesprungenen Lippen, und dann hörte ich sie ganz leise aber klar: „Ich mache den Laden jetzt bald dicht!“
Als ich meine Fassung wiedergefunden hatte, musste ich lachen. Das Eis war gebrochen! Von diesem Augenblick an entspannte ich mich – keine ängstliche Betulichkeit mehr, kein falsches Pathos, kein ergriffenes Schweigen, kein bedeutungsschwangerer Ernst! Meine Mutter wollte den Laden dicht machen, einfach so, und warum sollte ich daraus ein erhabenes Drama machen? Wenn ich mit der Sterbenden im Einklang bleiben wollte, musste ich dem Tod etwas lockerer begegnen. Ich lachte ihr ins Gesicht und sagte: „Mach´ den Laden ruhig dicht. Ich passe auf, dass dich niemand belästigt!“ Sie nahm noch einmal all ihre Kraft zusammen, verzog das Gesicht zu einem Lächeln und hauchte ein winziges „Dank dir, mein Herz!“
Die Schwestern und sogar Frau Dr. Lange wurden von Tag zu Tag nervöser, weil Nora ihren Hungerstreik unbeirrt fortsetzte. Ich aber fühlte mich immer wohler bei ihr. Während sich ihr Körper ins Nichts auflöste, fand ich, dass sie immer schöner wurde. Alle Masken waren abgefallen. Ihr Gesicht – hager und durchsichtig wie zartes Porzellan – strahlte Ruhe und emotionslose Klarheit aus. Endlich konnten wir zusammen schweigen, und es gab keine Kleinlichkeiten mehr. Manchmal, immer seltener, vertieften sich die Falten an der Nasenwurzel, ihre Augenlider flatterten und der Blick nahm einen besorgten oder traurigen Ausdruck an. Der Verstand arbeitete und gewann die Oberhand über das Bewusstsein.
Der Konflikt zwischen Verstand und Bewusstsein hatte sie ihr ganzes Leben lang begleitet, und nun focht sie ihn zum letzten Mal auf dem Sterbebett aus. Der Verstand ist Sorge, Traurigkeit, Widerstand – das Bewusstsein ist Harmonie, Freude, Hingabe. Ihr lebhaftes Gehirn hatte sie immer wieder in die Irre geführt. Wenn Kopf und Herz im Widerstreit lagen, blieb der Kopf bei ihr gewöhnlich der Sieger, und damit auch Misstrauen, Angst, Neid, Zorn.
Sie war ein Weltmeister im Sich-Sorgen-Machen. Überall lauerten Gefahren, hinter jedem Busch verbarg sich ein Verrückter, der ihr nach der Handtasche, dem Leben oder gar der Unschuld trachtete. Sie traute niemandem, sagte immer nein, auch wenn ein Ja ihr besser bekommen wäre und zweifelte das Gute im Menschen grundsätzlich an. Jetzt, sozusagen in letzter Minute, hatte sie Gelegenheit, Versäumtes nachzuholen und ihrem Herzen zu vertrauen. Ich hielt ihre Hand und redete auf sie ein: „Wir wissen, dass du uns lieb hast. Wir haben dich auch lieb. Es geht uns gut. Mach dir keine Sorgen um uns. Lass einfach los. Bald bist du tot, und in ein paar Jahren folge ich dir…“
Sie entspannte sich. Keine Gedanken mehr. Hingabe. In diesem Zustand der Unterwerfung strahlte sie eine Würde und eine Kraft aus, die selbst Schwester Gerda nicht unbeeindruckt ließen. Die flog plötzlich mit dem Ruf durch die Tür: „Na, Frau Elten, wir sind ja schon wieder mopsfidel, was?“ Aber dann blieb sie stehen, trat einen halben Schritt zurück und legte erschreckt die Hand auf ihren vorlauten Mund. Sie hatte wohl gespürt, dass ihr Geplapper in Gegenwart dieser Frau, die mit der Würde eines Zen-Meisters starb, unerträglich geworden war.
Im Laufe der Wochen wurde das Ungewöhnliche gewöhnlich. Die Nähe des Todes wurde mir vertraut. Ich spürte seine Anwesenheit im Raum, wie eine auf und abschwellende Welle – kühl, freundlich, angenehm. Der Tod hielt sich in der Ecke neben dem Fenster auf, jedenfalls kam mir das so vor, denn wenn ich mich auf ihn einstellte, wurde mein Blick unwiderstehlich von dieser Ecke angezogen, und ich spürte seine Energie Es war merkwürdig, dass die Energie verschwand, sobald sich Nora´s Lebensgeister verflüchtigten. Minuten später waren die Lebensgeister wieder da und mit ihnen der Tod.
Die Tage flossen ineinander. Das Gefühl für die Zeit verschwand. Wenn ich auf den neonbeleuchteten Korridor ging, um mir die Beine zu vertreten oder im Schwesternzimmer eine Flasche Mineralwasser zu holen, schrieen mir die Schlagzeilen der BILD – Zeitung entgegen, die auf dem Besuchertisch lag: „Krenz am Ende!“ In der Nacht waren wieder zwölftausend DDR-Bürger in die Bundesrepublik geflohen. Ich hatte es schon in den Nachrichten gehört, als ich mit dem „Walkman“ neben der Sterbenden auf der Kunststoffpritsche lag.
Das kommunistische Regime im anderen Deutschland löste sich auf. Die Medien sprachen von „historischen Wochen“. Aber auch historische Ereignisse verblassen im Angesicht des Todes. Die Vergänglichkeit allen irdischen Tuns war mir mehr denn je bewusst, und ich interessierte mich weniger für die Fakten, als für die vertikale Dimension des Geschehens: War der Untergang der DDR ein Signal, das den Übergang vom Zeitalter des Materialismus in das Zeitalter der Spiritualität anzeigte?
Der „real existierende Sozialismus“ hatte abgewirtschaftet, nicht nur in der DDR, so viel stand fest. Der Kommunismus, der auf der Marx´schen These gründete, dass die sozioökonomische Situation des Menschen sein Bewusstsein bestimmt, hatte sich als Irrlehre erwiesen. Schlug das Pendel nun zurück? Begannen wir zu verstehen, dass unser Bewusstsein unser Sein bestimmt? War der Blick endlich frei geworden für die Bedeutung des Geistigen in unserer Existenz? Erlebten wir den Beginn einer neuen Religiosität? Würde das Elend unserer „Brüder und Schwestern“ uns aufrütteln und uns begreiflich machen, dass keine Form des Materialismus, sondern nur die Kraft der Liebe uns helfen kann – dass wir teilen müssen, wenn wir auf diesem kleinen Raumschiff Erde menschenwürdig leben wollen? Nur wenn es so war, hatten die Demonstrationen auf den Marktplätzen der DDR eine historische Bedeutung. Wenn es nur zu einem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik kommen sollte, dann würden wir wieder einmal weiter nichts erleben, als einen Transfer der Macht mit ihren Privilegien von einer Kaste auf die andere – diesmal von den Funktionären auf die Finanziers. Und wieder wäre eine Chance vertan. Wieder einmal hätten wir die einzig wirkliche Revolution verpasst – die Revolution des Bewusstseins.
Eines Morgens kam Frau Dr. Lange mit der Botschaft zur Visite, dass die Krankenkasse die Hospitalkosten für meine Mutter nicht mehr bezahlen wollte. Sie sei keine Patientin, sondern eine Sterbende. Logisch. Aber wohin mit der Sterbenden? Frau Dr. Lange hatte schon mit Frau Kosanke telefoniert. Nora hatte noch ihr Zimmer im Altenheim, nun sollte sie in das Pflegeheim kommen, das dem Altenheim angeschlossen ist. „In ein paar Tagen wird wahrscheinlich ein Platz im Pflegeheim frei“, sagte Frau Dr. Lange verlegen.
Nun würde also doch geschehen, was Nora unter allen Umständen, sogar um den Preis ihres Hungertodes, vermeiden wollte: die Einweisung ins Pflegeheim. Und ich war hilflos! Ich konnte nur hoffen, dass sie die Verlegung nicht mehr mitkriegen würde. Seit fünf Tagen schien sie überhaupt nichts mehr wahrzunehmen. Alle drei Stunden drehte ich ihren vogelhaft zarten Leib mit Hilfe der Schwester in eine andere Lage. Sie ließ das über sich ergehen, so als spürte sie es gar nicht. Auch wenn sie gewaschen und eingesalbt wurde und die Schwestern und ich manchmal etwas kräftig zufassen mussten, blieb sie seit Tagen passiv – kein Stirnrunzeln mehr, kein Klagen, kein Stöhnen. Nur das leise Röcheln des Atems war noch da – und das Herz schlug ruhig und unentwegt…
Ihr Hausarzt, der sie im Altenheim betreut hatte, war vor ein paar Tagen vorbei gekommen und entsetzt gewesen: „Diese Krankenhausärzte können einfach die Menschen nicht in Frieden sterben lassen!“ schimpfte der junge Arzt leise, als wir auf dem Korridor auf und ab gingen. Ich fragte ihn, was er denn damit meine, und er sagte, dass es „ein totaler Blödsinn“ sei, der Patientin Ringer-Lösung über den Tropf zuzuführen. Das war die Salzlösung, die Nora bekam, damit der Körper nicht dehydriert. „Würden Sie meine Mutter denn einfach verdursten lassen?“ fragte ich ihn. Er blieb stehen und schaute mir gerade in die Augen: „Ich begleite viele alte Menschen in den Tod“, sagte er. „Fast alle sterben friedlich und schmerzlos innerhalb von einer Woche, wenn man ihnen keine Ringerlösung gibt, das können Sie mir glauben. Einige wenige lassen erkennen, dass sie Durst haben – und die trinken dann auch aus der Schnabeltasse.“
Ich nahm den Doktor am Arm und sagte: „Kommen Sie mit! Wir gehen zu Frau Dr. Lange und verlangen, dass die Ringerlösung abgesetzt wird!“ Aber der junge Hausarzt wich erschreckt zurück: „Moment mal!“, flüsterte er und schaute sich misstrauisch um. „So geht das nicht. Die Lange tut doch schon, was sie kann. Hier geht es um die Politik des Hauses. Ein heißes Eisen!“
„Dann gehen wir eben zur Chefärztin“, schlug ich vor. Der Hausarzt schüttelte den Kopf. „Tut mir leid“, sagte er, „ich muss auf meinen Ruf achten. Wenn ich hier den Mund aufmache, heißt es gleich: ´Der junge Dr. Schröder betreibt Euthanasie!´ Und dann bin ich weg vom Fenster“.
Ich war verzweifelt. Frau Dr. Lange hatte sich für ein paar Tage beurlaubt. An ihrer Stelle kam die Chefärztin zur Visite, eine respekteinflößende Erscheinung. Alles war groß an ihr: die breitschultrige Statur, der weißumlockte Kopf, das Gesicht, das rot angelaufen war, so als leide sie unter hohem Blutdruck, die schweren Hände. Sie rauschte mit einem stummen Gefolge von Schwestern und Assistenzärzten durch das Krankenhaus. Als sie ins Zimmer trat, riss sie ihre großen blauen Augen weit auf, erforschte mit zwei knappen Kopfbewegungen nach links und rechts den Raum, nahm das Tonband wahr, die Deuter-Kasetten, die Titel meiner Bücher, die auf dem Sideboard lagen, richtete den Blick auf mich wie einen gebündelten Laserstrahl, gab mir eine Sekunde, um mich vorzustellen, wandte sich von mir ab und sprach meine Mutter an. „Nun Frau Elten, wie geht es uns denn?“ schnarrte sie. Nora öffnete langsam die Augen, schaute die Chefärztin an, atmete einmal tief durch und sagte laut und deutlich: „So weit ganz gut, Frau Doktor!“ Ich dachte, ich höre nicht recht! Selbst die Chefärztin schien verblüfft. Sie schaute mich fragend an, zog hilflos die Schultern hoch, trat einen Schritt vor, fühlte den Puls der Sterbenden, schüttelte langsam den Kopf und sagte: „Das freut mich aber Frau Elten!“
Ich folgte ihr auf den Korridor. „Hier kann ja wohl von Sterben keine Rede sein!“ sagte sie zu mir, und es klang fast wie ein Vorwurf. „Sie müssen eben die Ringerlösung absetzen“, sagte ich und wollte noch hinzusetzen, dass meine Mutter sicher aus der Tasse trinken würde, wenn sie Durst hätte, aber die Chefin kam mir zuvor:
„Ausgeschlossen! Wir können sie schließlich nicht verdursten lassen!“ sagte sie barsch und warf mir einen missbilligenden Blick zu.
Ich hätte gerne den jungen Hausarzt an meiner Seite gehabt, aber der hatte sich verdrückt.
Die Chefärztin sagte: „Es sieht fast so aus, als ob Ihre Frau Mutter sich erholt.“
„Sie wissen so gut wie ich, dass sie sterben will“, sagte ich. Die Chefin straffte sich zu voller Höhe, hob das Kinn an, schaute nachdenklich aus dem Fenster und sagte zögernd, so als spreche sie zu sich selbst: „Ja, aber das Herz, das Herz will doch nicht…“ Dann wandte sie sich mit einem Ruck zu mir und deutete eine winzige Verbeugung an: „Auf Wiedersehen!“ Und noch ehe ich etwas erwidern konnte, rauschte sie mit ihren Assistenten und Schwestern davon.
Im Pflegeheim wurde ein Zimmer frei, bevor die Chefärztin mit der Wiederaufrüstung meiner Mutter beginnen konnte. Die energische und korrekte Frau war gewiss froh darüber, dass sie die Verantwortung los wurde und ihr eine Gewissensentscheidung erspart blieb.
Kurz vor der Verlegung klopfte es an der Tür und ein ernster, dunkel gekleideter Herr trat ein. „Ich bin Pfarrer Hempel“, sagte er laut und drückte seinen Hut auf die Brust. „Sie sind gewiss der Sohn…“ Ohne meine Antwort abzuwarten, trat er an das Bett, schob den Kopf vor und fragte eindringlich: „Frau Elten! Erkennen Sie mich?“
Nora reagierte nicht. „Frau Elten! Ich bin Pfarrer Hempel! Erinnern Sie sich?“ Er verharrte eine Weile in seiner angestrengten Haltung, und als Nora nicht auf ihn reagierte, wandte er sich an mich. „Ich bin der Pfarrer vom Altenheim. Ich möchte gerne ein Gebet für Ihre Frau Mutter sprechen! Haben Sie was dagegen?“
Nora hatte an den Gottesdiensten des Pfarrers im Altenheim nicht teilgenommen und ihn auch nie in ihrem Zimmer empfangen. Wenn sie jetzt auch nicht reagierte, so war ihr vielleicht doch bewusst, dass er neben ihrem Bett stand, und sicher imponierte es ihr, dass der Herr Pfarrer zu ihr kam, obwohl sie ihn doch immer bestenfalls wie Luft behandelt hatte. „Beten Sie nur ruhig, Herr Pfarrer, wenn es Sie glücklich macht“, hätte sie wohl zu ihm gesagt, wenn sie die Kraft dazu gehabt hätte. „Beten Sie ruhig. Mir ist es egal. Ich bin Realist…“ Und so sagte ich zu Pfarrer Hempel: „Tun Sie, was Sie für richtig halten“.
Pfarrer Hempel legte seinen Hut auf das Sideboard, faltete die Hände und sprach ein Vaterunser. Wir standen uns gegenüber und schwiegen. Endlich sagte der Pfarrer: „Ich habe mit Schwester Martha gesprochen, der Leiterin des Pflegeheims. Sie richtet ein Zimmer für Ihre Frau Mutter her. Heute Mittag kann sie umziehen. Wir freuen uns, dass wir sie wieder bei uns haben. Unser Heim ist ihr zu Hause.“
Ich bedankte mich bei dem bescheidenen Gottesdiener. Er nahm seinen Hut und wandte sich unter der Tür noch einmal um: „Wir erleben es nur noch ganz selten, dass die Angehörigen kommen und Anteil nehmen. Schön, dass Sie sich so viel Zeit für Ihre Frau Mutter nehmen.“ Im Umgang mit alten, schwerhörigen Menschen hatte er sich angewöhnt, langsam und laut zu sprechen. Er lüftete seinen Hut, wünschte einen Guten Morgen und zog die Tür hinter sich zu.
Als meine Mutter im Pflegeheim ankam, dirigierte Schwester Martha das Rollbett ins Sterbezimmer der dritten Etage. Sie schaute Nora aufmerksam an, fühlte ihren Puls und sagte: „Noch eine Woche, höchstens…“ Kein Getue, wie ich es von Schwester Gerda gewöhnt war, kein „Na-wir-sind-ja-schon-wieder-mopsfidel, was?“ und kein „Nun-müssen-wir-aber-mal-wieder-schön-happihappi-machen, gell!“. Schwester Marthas Mitgefühl zeigte sich in ehrlicher Sachlichkeit. Ich wollte von der Ringer-Lösung anfangen, aber sie unterbrach mich sofort: „Ringerlösung ist natürlich gar nicht hilfreich!“ Diese rundliche, warmherzige Frau brauchte die Meinung des Hausarztes nicht, der jetzt wieder für Nora zuständig war. Sie führte das Pflegeheim mit einer energischen Mütterlichkeit, der sich auch die Ärzte gerne unterwarfen. Sie war hier der Chef und sie hatte – wie sie mir bald anvertraute – nichts übrig für Ärzte, die mit ihrer Hightech-Medizin alten Menschen ein unwürdiges Ende aufdrängen.
Das Pflegeheim verlässt niemand lebend. Hier wird kein großes Geld verdient und kein Ruhm geerntet. Hier kann sich ärztliches Ego nicht in interessanten Experimenten entfalten. Wer zu Schwester Martha ins Pflegeheim kam, hatte die Endstation erreicht. Sie begleitete alte Menschen mit behutsamer Geduld in den Tod, nicht mehr und nicht weniger.
Ich war erleichtert: Keine Ärzte in Gewissensnöten, und niemand schlich sich mit der Schnabeltasse an. Es gab keine pompösen Chefvisiten, kein Fiebermessen um fünf Uhr früh und keine Krankenkasse, die plötzlich nichts mehr zahlen wollte. Die Atmosphäre war entspannt, beinahe gemütlich, obwohl manchmal schrille Schreie durch den Korridor gellten. Dann wusste ich, dass die alte Bechtelmann, Zimmer 5, mal wieder durchdrehte. „Wer hat mir denn diesen blöden Scheitel gezogen?“ kreischte sie empört, und Rolf, der Medizinstudent, der hier gelegentlich als Pfleger arbeitete, versuchte, sie zu beruhigen: „Aber was haben Sie denn - der Scheitel sieht doch wunderschön aus!“ – „Quatsch!“ schrie die Bechtelmann.
Die meisten Klienten in diesem Hause waren bettlägerig. Wer sich noch bewegen konnte, schlurfte, von Rollgestellen gestützt, über den Korridor. Es gab zwei gesellige Zentren – den Esstisch, der neben der Etagenküche auf dem Flur stand und das Fernsehzimmer. Am Tisch saßen alte Damen, schauten Mickimaus-Hefte an und warteten geduldig auf das Essen. Sie sprachen nicht miteinander, denn sie waren entweder so schwerhörig, dass sie sich nicht verständigen konnten, oder sie lebten weit, weit weg in ihrer eigenen Welt. Manchmal sprachen sie mit Wesen, die niemand außer ihnen selbst wahrnahm, aber meistens schwiegen sie und schauten blicklos auf den Tisch.
Nachmittags zum Kaffee zündete die Küchenschwester die Adventskerzen auf dem Tisch an. Von irgendwoher kam Musik. „O Tannenbaum, O Tannenbaum…“ tönte es oder „Alle Jahre wieder kommt das Christuskind…“ und die schmächtige Oma Beyer senkte den Kopf, und Tränen tropften auf ihre gefalteten Hände. Neben ihr beugte sich die wilde Hilde über den Tisch vor, holte hektisch Luft und versuchte, die Kerzen auszublasen. Es gelang ihr nicht, und so blickte sie wütend in die Runde und rief den anderen zu: „Nun los! Warum hilft hier denn keiner?“ Aber die anderen alten Damen stierten nur auf ihre Teller und warteten, mit dem Lätzchen von der Brust, auf den Kuchen.
Die Küchenschwester kam mit der Kaffeekanne an den Tisch und protestierte: „Oma Hilde! Wollen wir denn schon wieder die Kerzen ausblasen?“ Die wilde Hilde wich erschreckt zurück, legte die Hand auf ihren Mund und hatte ein schlechtes Gewissen. Am Ende des Korridors saß Opa Kopper mit dem Krückstock zwischen den Beinen am Fenster und stierte unverwandt in den Park. „Na, Opa Kopper, genießen wir die schöne Natur?“ rief ihm die Küchenschwester zu. „Nö“, sagte Opa Kopper, „eigentlich nicht.“
„Na dann können''Se ja auch kommen und ´ne Tasse Kaffee mittrinken“, lud ihn die Küchenschwester ein. „Och nö“, sagte Opa Kopper und schaute wieder aus dem Fenster.
Im Fernsehzimmer gab es seit zwei Stunden eine Bildstörung. Auf der Mattscheibe war nur das bunte Symbol des Senders zu sehen. Aus dem Apparat tönte Musik. Sieben Heimbewohner saßen in ihren Sesseln und starrten unverwandt auf den Bildschirm. Vor einer Stunde schon hatte ich die Stationsschwester auf die Bildstörung aufmerksam gemacht. „Och, das macht doch nichts“, hatte sie gelacht. „Hauptsache es kommt Musik aus dem Kasten und das Bild ist schön bunt.“
Ich war stolz auf meine Mutter, dass sie sich auf ihre alten Tage das Leben eines körperlichen und geistigen Krüppels erspart hatte, und ich war ihr dankbar dafür, dass sie es mir erspart hatte, sie hier im Fernsehzimmer oder am Kaffeetisch auf dem Korridor zu erleben. Ich bewunderte sie dafür, dass sie die Kraft und den Mut aufgebracht hatte, zu ihren eigenen Bedingungen zu sterben, zumal ihr doch die Tröstungen des Glaubens und die Hilfe der Pfarrer nicht zuteil wurden. Sie hatte nichts zu bekennen und nichts zu beichten. Sie trat ohne Hoffnung auf die Unsterblichkeit ihrer Seele an die Schwelle zum Jenseits.
Sie starb als Atheistin. Der Tod war für sie nicht das Tor zum Paradies, sondern die unwiderrufliche, totale Auslöschung ihrer Existenz. Aber sie sehnte ihn herbei, denn er war für sie das kleinere Übel: er bewahrte sie vor einem Ende, das sie nicht mehr mit ihrem unbeugsamen Willen gestalten und kontrollieren konnte. Vielleicht war es die Angst davor, die Kontrolle zu verlieren, die sie im Angesicht des Todes so mutig machte. Es würde mich nicht wundern, denn ich glaube, dass sie sich ihr ganzes Leben lang davor gefürchtet hat, ihre Passionen auszuleben, ekstatisch zu sein, den Kopf zu verlieren, sich den wilden, unberechenbaren Mysterien des Lebens hinzugeben.
Einmal fragte ich sie nach dem Sinn des Lebens und sie antwortete mit lustig blitzenden Augen: „Aufpassen, dass man nicht im Gefängnis landet!“
Ihre Grundhaltung war sarkastisch, und sie teilte mit den meisten anderen Menschen die Auffassung, dass das Leben keine tiefere Bedeutung hatte. Man lebte, um zu essen, zu trinken, zu schlafen, Geld zu verdienen, Kinder in die Welt zu setzen, Schmerz zu vermeiden, Glück zu suchen und von seinen Mitmenschen respektiert zu werden. Aber Glück und Erfüllung hatte sie dabei nicht gefunden, obwohl sie im Grunde eine lebenslustige Frau war, die sich gerne amüsierte und von spießigen Moralbegriffen nicht einengen ließ. Sie hatte Humor und lachte gerne, am liebsten allerdings auf Kosten anderer Leute. Sie ging gerne, aber selten aus, und sie liebte es, wenn einfache Leute sie für eine gebildete Dame aus der „Gesellschaft“ hielten. Sie legte großen Wert auf Garderobe, aber ihre besten Sachen trug sie nie. Die wollte sie für den großen Anlass „schonen“. Nun hingen sie unbenutzt im Schrank und in ein paar Tagen würde das „Rote Kreuz“ sie abholen.
Ihr ganzes Leben lang wartete Nora auf den großen Anlaß, auf den richtigen Mann, auf das große Geld – auf das Glück. Viele interessante Männer hatten um sie geworben, aber keiner war ihr interessant genug gewesen. Am Ende lebte sie in eisiger Einsamkeit. Sie hatte sich dem Leben nicht in die Arme geworfen, sondern darauf gewartet, dass die Existenz sie mit angenehmen Überraschungen verwöhnt. Dafür „schonte“ sie sich. Wenn das große Glück kam, wollte sie bereit und fit sein. Sie hatte es mit der Gesundheit, sie turnte, ging viel an der frischen Luft spazieren, schaffte sich noch mit 75 Jahren ein Paddelboot an, das sie unerschrocken auf den Hamburger Kanälen navigierte, ging zur Kur, wusch sich, wenn sie jemandem die Hand geschüttelt hatte, kurzum, sie war im wesentlichen damit beschäftigt, in physischer Hochform zu sein.
Ich machte mir Sorgen, weil ich sah, dass ihre narzisstische Art sie immer mehr von ihren Mitmenschen entfernte. Sie hatte ein dringendes Bedürfnis „interessante Leute“ kennen zu lernen, aber die meisten Menschen hielt sie für „provinziell“, und wenn sie mal jemandem begegnete, der ihren hohen Anforderungen zu entsprechen schien, blieb es in der Regel bei einer kurzen Bekanntschaft, denn Nora redete und redete – und redete nur von sich selbst. Aber die meisten sogenannten „interessanten Leute“ finden es am interessantesten, von sich selber zu reden und meiden deshalb Menschen, die ihrerseits nur von sich reden wollen.
Obwohl meine Mutter geistig rege und vielseitig interessiert war, blieb sie doch völlig unbewusst, das heißt, dass es ihr gar nicht in den Sinn kam, kritisch und ehrlich in sich selbst hineinzuschauen. Im allgemeinen war sie nicht feige, aber für die Reise nach Innen fehlte ihr der Mut. Ich glaube, dass sie eine schreckliche Angst davor hatte, ehrlich mit sich selbst zu sein und ihre Eigenliebe, ihren Mangel an Herzenswärme, ihre Angst vor Nähe zu entdecken.
Das Risiko der Meditation war ihr zu groß. Sie hielt ihre Tagträume, ihre Vorstellung von einem glücklichen Leben, für die „Realität“. Aber es war diese ihre Realität, die ihrem Glück im Wege stand. Sie konnte nicht sehen, dass Glück nur demjenigen beschieden ist, der seinen Eigennutz überwindet. Die Buddhisten nennen es die Transzendenz des Egos, für die Christen ist es die Hingabe an Gott.
Alle religiösen Traditionen sagen, dass das wahre Glück nicht von dieser Welt sei. Die Dogmatiker haben daraus den Kult der Armut und der Askese entwickelt. Ein Irrweg. „Nicht von dieser Welt“ bedeutet lediglich: nicht im Vergnügen, nicht im Erfolg, nicht im Wohlstand, nicht im Prestige, nicht im Materiellen, im Prosaischen, im Verstand. Der Mensch – dieses mysteriöse Wesen auf dem Weg vom Tier zum Gott – braucht zu seinem Glück die Liebe, die Ekstase, die Schönheit und den Glauben daran, dass es ihm bestimmt ist, durch beharrliche Arbeit an sich selbst, seine Göttlichkeit zu manifestieren. Der glückliche Mensch ist einer, der die Verantwortung für sich selbst übernimmt, der den Mut zur Selbsterkenntnis aufbringt, der existenziell erfährt, dass er ein Kind des Universums ist und der seine Angst vor dem Tod im Vertrauen darauf überwindet, dass die Existenz ihn trägt und behütet.
Meine Mutter war von solchen Einsichten immer weit entfernt gewesen, und ihr platter Sarkasmus hatte mich oft abgestoßen. Aber in diesen letzten Tagen, als sie im Sterbezimmer des Pflegeheims lag und ihr Körper langsam von ihr abfiel, fühlte ich mich ihr so nahe wie seit meiner frühen Kindheit nicht mehr. Sie konnte nicht mehr sehen und nicht mehr sprechen, aber dennoch war sie ganz präsent für mich. Ich saß an ihrem Bett, und mein Herz floss über. Ich liebte sie tiefer denn je. Ich verzieh ihr alles und ich bat sie um Verzeihung dafür, dass sie mir oft so fremd war. Ich sprach zu ihr, und ich wusste, dass sie mich hörte, denn sie reagierte auf das, was ich sagte, mit feinen Energiewellen, die ich deutlich wahrnehmen und auch deuten konnte.
Ich spürte, dass die Begegnung mit dem Tod sie verwandelte. Die Buddhisten sagen, dass Bewusstheit im Angesicht des Todes die Versäumnisse eines unbewussten Lebens aufwiegen. War es das, was sie in diesen letzten Stunden erlebte? Sie atmete nur noch ganz flach und kaum hörbar, und ich musste meinen Kopf auf ihre Brust legen, wenn ich ihren Puls spüren wollte. Das Herz schlug zart und flirrig wie ein Libellenflügel. Seit Tagen war mir bewusst, dass sie die Verbindung zu ihrem Körper schon weitgehend gelöst hatte. Oft hielt sie sich stundenlang gar nicht in ihrem Körper auf. Dann nahm ich sie als ein Energiephänomen wahr, das über ihrem Körper schwebte oder sich manchmal auch im Raum bewegte, sodass ich unwillkürlich meinen Kopf wendete, wenn ich zu ihr sprach. Ihr Körper schien sich in Licht aufzulösen, und im Raum breitete sich eine unirdische Ruhe aus.
Ich lag in einem Liegesessel neben ihrem Bett. Auf dem Fensterbrett brannte eine Kerze. Auf dem Tonband spielte ich Deuter, Kitaro, Vangelis, Vollenweider. Manchmal sang ich mit Inbrunst ein albernes Lied, das ich für sie komponiert hatte:
„In hohen Himmelssphären
da singt ein Engelschor
ein Lied zu deinen Ehren
so schön wie nie zuvor!“
Nora liebte es. Wir hatten manchmal richtig Spaß zusammen. Ich verließ den Raum nur noch für Minuten. Der Herbst war in den Winter übergegangen. Ein kalter Hamburger Regen schlug gegen das Fenster. Nachts versteckten sich die Sterne im Nebel oder hinter dicken Wolken.
Eines morgens gegen sechs Uhr schreckte ich aus einem Halbschlaf auf. Nora lag neben mir wie immer. Ich hörte das leise Röcheln ihres Atems, und da war der Libellenschlag ihres Herzens. Und doch war alles anders.
Ich fühlte, dass der Tod aus dem Hintergrund gekommen war und den Raum mit einer sanften, kühlen, klaren Energie beherrschte. Es war so weit! Ich nahm Nora´s Hand, eine kalte, unendlich zarte Hand, beugte mich über sie und küsste sie sanft auf die Stirn. „Du warst wunderbar!“ flüsterte ich. „Ich liebe dich! Mach''s gut… Bis auf bald… Tschüß!“
Ihre Brust hob sich leicht. Sie atmete tief ein, spitzte den Mund, und entließ ihren letzten Atem mit einem leisen Lächeln. Ich schaute auf die Uhr. Es war sechs Minuten nach sechs.

Copyright Jörg Andrees Elten