Leseprobe „Ganz entspannt im Hier und Jetzt“
Im Sommer 1977 erhielt ich vom STERN den Auftrag, den indischen Ministerpräsidenten zu interviewen und eine Reportage über die kommunistische Partei in West-Bengalen zu schreiben. Ich schlug der Chefredaktion als drittes Thema eine Reportage über den Aschram des »Gurus« Bhagwan Shree Rajneesh vor.
Ein paar Wochen später trat ich Bhagwan zum ersten Mal gegenüber. Er breitete die Arme aus, lachte und sagte: »Da bist du ja endlich! Ich habe gewartet und gewartet …«
Das größte Abenteuer meines Lebens hatte begonnen.
Begegnung
Bombay, 24. Juni
Die Lufthansa Boeing landete kurz nach sieben Uhr morgens in Bombay. Das Wetter: regnerisch, heiß, düster. Die Slums an der Airport Road, aus der die Menschen quellen, wie träge, kranke Ameisen. Die Stadt, wie ein von der Lepra befallener Organismus – halbverfallen, modrig. Eine offene Wunde, eitrig, blutend, Kräfte verzehrend. Dennoch vermitteln die Massen mit ihrer trägen Betriebsamkeit den Eindruck von Vitalität. Eines Tages wird das große Sterben kommen – Hungersnot. Seuchen. Wenn die Hälfte stürbe, wären immer noch zu viele übrig. In der so genannten zivilisierten Welt würde es ein leichtes Gruseln geben, mehr nicht. Niemand kümmert sich um die Lebenden – wen sollen die Toten bekümmern?
Im »Taj Mahal«-Hotel, dieser Festung viktorianischer Größe am Meer, beziehe ich ein riesiges Zimmer mit Stuckdecke und Marmorbad. Hänge das »Don’t disturb!«-Schild an die Tür, schließe mich ein, schlafe den ganzen Tag. Überlasse es Jay, meinem indischen Fotografenfreund, Verbindung mit dem Rajneesh Aschram in Poona aufzunehmen. Bombay deprimiert mich.
Beim Abschied von Margit ungute Gefühle. Unsere Flitterwochen, die Monate gedauert haben, sind vorbei.
Abendessen mit Jay in einem kleinen Restaurant. Danach im Schritt-Tempo mit dem Taxi durch die »Red Lantern-Area«. Tausende von aufgeputzten Kinderhuren auf den steilen, hell beleuchteten Stufen enger Hauseingänge. Darüber die offenen Fenster überfüllter Quartiere. Neonlicht. Träge kreisende Ventilatoren, aufgehängte Wäsche. Ziegen, Ratten, fahrbare Straßenküchen, Zuhälter in den Caféhäusern. Manche Mädchen – nicht älter als zwölf Jahre – haben Pritschen mitten auf der Straße aufgeschlagen, verkaufen sich unter gewölbten Plastikplanen für eine Rupie – das sind 25 Pfennig.
Später noch ein Spaziergang ums Hotel. Unter den Arkaden an der Rückfront schlafen die Menschen dicht gedrängt auf dem Asphalt der Bürgersteige. Kindliche Mütter, die ihre Kinder im Schlaf wie Puppen an sich pressen… Ein Alter, der wie in Trance vor sich hinsummt. Ein anderer, die Brille auf der Nasenspitze, legt Patience. Eine bis auf die Knochen abgemagerte alte Frau versucht, einem schlafenden Teenager das Tuch unter dem Körper wegzureißen. Jay fragt sie auf Hindi, was denn los sei. Die Alte: »Das ist mein Sohn. Ich habe noch nicht gegessen, und er hat Geld ..«.
Bombay, 25. Juni
Ich versinke in Lethargie. Das graue, stinkende Chaos der Stadt, das düstere, regnerische Wetter, halten mich im Hotel zurück. Jede Initiative ist ein Opfergang. Ich liege im Bett, lese V. S. Naipauls »India a wounded civilisation«, als der Hotelboy kommt und ein Telex von der STERN-Redaktion bringt: ein großer Konvoi von Fischerbooten mit Vietnamflüchtlingen an Bord ist angeblich mit Kurs auf Hongkong unterwegs. Wir möchten bitte sofort nach Hongkong weiterfliegen und darüber berichten.
Eine innere Stimme sagt mir: »Gehe nicht! Du musst nach Poona fahren!« Ich melde ein Gespräch nach Hamburg an, erkläre K.L., dem Ressortleiter, dass am 1. Juli in Bhagwans Aschram ein »Vollmondfest« stattfindet, das wir auf keinen Fall verpassen wollen. Sie schicken ein anderes Team nach Hongkong.
Bombay, 26. Juni
Frühstück mit Krushwand Singh, dem Chefredakteur der »Illustrated Weekly«, Indiens größter illustrierter Zeitschrift. Klein, bebrillt, listig, kommt er mit einem billigen Regenschirm und handgewebtem Polohemd in den Hotel-Coffeeshop.
»Was immer Sie über Indien schreiben«, sagt er, »das Gegenteil ist auch richtig«. Wie recht er hat! Und nicht nur in Indien ist es so. Es ist wahrscheinlich gleichgültig, was ich schreibe. Alles ist richtig, alles ist falsch. Das Leben ist rätselhaft. In Indien fällt es nur mehr auf, weil es hier menschlicher zugeht als im automatisierten Westen. Der Journalismus wird immer fragwürdiger. Verbringe den Tag lesend im Bett.
Bombay, 27. Juni
Jay hat uns im Aschram bei einer Ma Yoga Laxmi angemeldet. Sie ist da wohl die Chefsekretärin. Jay meint, er habe gehört, sie habe fast genauso viel zu sagen wie der Meister. Mit Frauen können wir’s ja gut. Sie muss uns ein Interview mit Bhagwan einfädeln.
Bei strömendem Regen im Mietauto nach Poona. Fast vier Stunden Fahrt auf belebter, chaotischer Straße. Wir steigen im »Blue Diamond«-Hotel ab. Moderner Betonkasten mit Swimmingpool. Poona ist eine Industriestadt mit fast zwei Millionen Einwohnern. Der Shree Rajneesh Aschram ist nur zehn Minuten vom Hotel entfernt, liegt im Koregaonpark, dem feinsten Villenviertel.
Das schwere, mit Messing beschlagene Mahagoni-Tor des Aschrams ist geöffnet. Zu Ma Yoga Laxmi gehe es geradeaus, sagt ein athletischer indischer Wächter. Ein asphaltierter, von Blumen, Büschen und niedrigen Mäuerchen gesäumter Weg führt auf einen einstöckigen Flachbau zu. Im Erdgeschoss, hinter Panoramascheiben, ist Laxmis Büro. Marmorstufen, Glasschwingtür. Warteraum mit Kunstlederbänken.
Eine kleine, schüchterne Inderin führt das Besucherbuch. Laxmi sei bei Bhagwan, sagt sie. Ob wir Ma Arup sprechen wollten, das sei die Sekretärin von Laxmi. Die Sekretärin von der Sekretärin vom Chef – klingt nicht sehr vielversprechend. Es ist sieben Uhr abends. Immer noch strömender Regen.
Arup: groß, kräftig, flächiges, blasses Gesicht, wache, hellblaue Augen, breiter Mund mit vollen Lippen, Hollywood-Gebiß. Sie ist Holländerin. Psychotherapeutin. Sie schaut uns lächelnd, aber mit Radar-Blick an. Ob wir uns die »Musikgruppe« anschauen und in anderthalb Stunden noch einmal wieder kommen wollten?
Wir gehen ins »Radha Auditorium« nebenan. Es sieht aus wie eine offene Großgarage. Zwischen Betonsäulen verbreitet eine schmucklose Lampe schwaches Licht. Auf dem Fliesenboden sitzen etwa zwei Dutzend in Orange gekleidete Musikanten im Halbkreis, spielen auf westlichen und indischen Instrumenten, locker, leicht, rhythmisch, improvisiert.
Alle Männer tragen Bart, die Haare fallen lang über die Schultern herab. An einem Ende des Halbkreises sitzen vier sehr schöne Mädchen im Schneidersitz. Sie haben die Augen geschlossen, das Gesicht nach oben gewandt, summen mit geschlossenem Mund und wiegen den Oberkörper im Takt. Hymnenmusik, der Rhythmus wird immer schneller.
Die Musik steigert sich zum Fortissimo. Durch die Halle wirbeln etwa hundert Tänzer – Mädchen in wehenden, orangefarbenen Gewändern, junge Männer mit fliegenden Haaren. Jeder tanzt für sich, selbstvergessen, mit geschlossenen Augen. Ein Bärtiger mit schweißglänzendem, nacktem Oberkörper rast wie ein weißer Teufel über den Fliesenboden.
Eine junge Mutter tanzt mit ihrem Baby auf dem Arm. Das Kleine ruht mit seligem Gesichtsausdruck an ihrer Schulter. Die Mutter bleibt am Rande der Halle stehen, setzt das Kind auf einem Baumwolltuch ab, legt sich selbst lang auf den Rücken. Während die Mutter die Bluse öffnet, krabbelt das Baby heran und nimmt die Brust. Ein weißer Hund kommt dazu, schnuppert, wedelt schüchtern mit dem Schwanz. Das Tanzen geht weiter. Das Geprassel des Monsunregens mischt sich mit der Musik.
Ich sitze auf einer Holzkiste, gehe mit der Musik, wiege mit dem Oberkörper, möchte tanzen, traue mich nicht, fühle mich wohl, bleibe mit den Augen an einem der Mädchen hängen, das bei den Musikern sitzt. Was für ein schönes, entspanntes Gesicht sie hat! .
Arup weckt mich wie aus einem Traum. Laxmi käme heute nicht mehr ins Büro. Sie rät uns, am nächsten Morgen Viertel vor acht wiederzukommen und uns Bhagwans Vortrag anzuhören. »Aber benutzt bitte kein Parfum oder Rasierwasser«, sagt die Holländerin. »Bhagwan ist allergisch dagegen«.
»Was hast du für ein Gefühl?« fragt Jay, als wir im Hotel zu Abend essen.
»Gar keins«, sage ich.
Pünktlich viertel vor acht im Aschram. Wir gehen an Laxmis Büro vorbei zum »Lao-tse-Haus«. Vor dem Tor zu einem üppigen wildwuchernden Garten hat sich eine lange Schlange von orange gekleideten »Sannyasins« gebildet. Am Kopf der Schlange stehen Arup und noch ein anderes Mädchen und beriechen jeden, der Einlas begehrt. Als ich an die Reihe komme, beugt sich Arup vor, als wenn sie mir einen Kuss auf die Backe drücken will, zieht hörbar die Luft ein, schaut mich lächelnd an und sagt: »Sie riechen nach Rasierschaum, Mr. Elten. Bitte setzen Sie sich nicht vorne hin, sondern an die Peripherie der Halle«. Blöde Kuh, denke ich, was soll das Getue?
Wir müssen unsere Schuhe vor dem Tor lassen. Jay darf seine Kameratasche nicht mitnehmen. Schweigend gehen die Jünger auf einem schmalen Weg durch dichtes, dschungelartiges Grün, das über unseren Köpfen zusammenschlägt.
Das »Tschuang-tse-Auditorium«, benannt nach dem chinesischen Weisen, ist an eine einstöckige Villa angebaut, in der Bhagwan lebt. Die Halle ist halbrund und zum Garten hin offen. Weißgetünchte Wände, Betonsäulen, Fliesenboden, Lautsprecherboxen. An der Decke ein geschmackloser Kronleuchter. Die Jünger sitzen auf dem nackten Stein, viele mit gekreuzten Beinen in der so genannten Lotus-Position. Sie bilden einen Halbkreis, in dessen Zentrum sich ein flaches Podest erhebt.
Schweigen. Nicht einmal ein Huster ist zu hören. Dennoch kommt über Lautsprecher die Ansage: »Freunde, vergesst bitte nicht, dass ab jetzt und während des Vortrages nicht gesprochen und nicht gehustet werden darf. Bitte seid euch der möglichen Konsequenzen bewusst, die dadurch entstehen können, dass ihr hier Bazillen in die Luft bringt. Niemand darf das Auditorium während des Vortrages verlassen. Diejenigen, die glauben, dass sie diese Vorschriften nicht einhalten können, werden gebeten, das Auditorium jetzt zu verlassen. Die Wachen am Lao-tse-Tor werden ihnen einen Platz zeigen, wo sie dem Vortrag über Lautsprecher folgen können.«
Die Ansage ist auf englisch. Ich entdecke einen Platz, wo man sich mit dem Rücken bequem an eine Säule lehnen kann. Da steht ein »Swami« mit einem brustlangen Rauschebart, Stirnglatze und blauen Kulleraugen, die in ständiger Rundum-Bewegung sind, ohne dass der behaarte Schädel sich mitbewegt. Als ich mich niederlassen will, blitzt er mich empört aus den Augenwinkeln an und faucht: »Nicht hier«! Strenge Bräuche hier. Ich finde einen anderen Platz, spüre, wie mir die Kälte des Bodens in die Knochen zieht. Die Sitzgelegenheiten sind eine Zumutung.
Zwei kräftige Sannyasins tragen einen Bürosessel herein und stellen ihn auf dem Podest ab. Sie tragen weiße Handschuhe. Der eine, mit einem sehr eindrucksvollen roten Bart und einem dicken Zopf, zieht eine Leinenhülle von dem Sessel ab und faltet sie umständlich zusammen. Dann setzt er sich neben das Podest auf den Boden. »Das ist Shiva, der Chefleibwächter von Bhagwan« flüstert mir mein Nachbar zur Linken zu. Der mit der Stirnglatze und den Kulleraugen hat es gehört und wirft uns einen strafenden Blick zu.
Wir sitzen und warten. Stille. Das Gezwitscher exotischer Vögel. In der Ferne das Pfeifen von Rangierlokomotiven. Ein Flugzeug in großer Höhe.
Bhagwan erscheint mit der Lautlosigkeit eines fallenden Blattes. Eine mittelgroße Gestalt, eingehüllt in ein schneeweißes, maßgeschneidertes Baumwollkleid. Vorsichtig betritt er das Podest Er hat die Hände vor dem Gesicht gefaltet, senkt kaum merklich den Kopf, strahlendes Lächeln. Er dreht sich langsam im Halbkreis, scheint jeden einzelnen direkt anzuschauen. Die vor ihm sitzenden Jünger richten sich kerzengerade auf. Auch sie falten die Hände vor dem Gesicht. Viele starren den Meister mit weit aufgerissenen Augen und halboffenem Mund an.
Bhagwan lässt sich auf dem Sessel nieder. Eine zierliche Inderin mittleren Alters, das dunkle Haar unter einem straff gewundenen Kopftuch, beugt sich in respektvoller Haltung vor und reicht Bhagwan ein flaches Etui mit Notizen. Der Meister würdigt Ma Yoga Laxmi keines Blickes, als er das Etui nimmt.
Sofort faszinieren mich seine Augen. Sie sind schwarz und drücken eine hellwache bohrende Intelligenz aus. Unvermittelt geht konzentrierte Ernsthaftigkeit in Lächeln über, in eine unvoreingenommene, alles einbeziehende Freundlichkeit. Der Mann ist in jedem Augenblick mit seinem ganzen Wesen präsent. Totale Konzentration. Durchschlagskraft.
Die hohe Stirn setzt sich in einer stark gewölbten Glatze fort. An den Seiten verschmilzt das graumelierte Haupthaar mit dem Vollbart. Er streift die Sandale vom linken Fuß, schlägt das Bein über, legt die Fingerspitzen seiner durchsichtig wirkenden Hände zusammen, beugt sich ohne Hast zu einem Schlangenmikrofon vor und beginnt seinen Vortrag mit fast flüsternder Stimme. Er spricht englisch mit starkem indischen Akzent, legt Pausen ein, um das Gesagte wirken zu lassen. Der Vortrag hat eine melodische Rhythmik – wie Poesie.
Manchmal steigert Bhagwan die Lautstärke, und seine Stimme gewinnt metallische Härte. Dann reißt er die Augen auf und sein Blick bohrt sich in die Masse seiner atemlos lauschenden Zuhörer. Manche werden von nervösen Zuckungen befallen, als empfingen sie vom Meister eine mysteriöse Kraftübertragung. Andere kratzen sich hektisch, schlucken trocken.
Bhagwan spricht ohne Manuskript. Seine Gestik ist von zarter Eleganz. Es macht Spaß, ihm zuzuschauen. Erst allmählich fange ich an, den Sinn seiner Worte aufzunehmen, und ich bin überrascht von der rhetorischen und intellektuellen Brillanz seines Vortrags.
Die »Lecture« – wie der Vortrag von allen genannt wird – geht auf Tonband. Ich kann mir später die Kassette kaufen.
Bhagwan spricht über Zen-Buddhismus. Mir bleiben Bruchstücke in Erinnerung. Er bricht eine Lanze für die Unvollkommenheit.
»Unvollkommen sein ist schön«, sagt er. »An dem Tage, da du vollkommen wirst, stirbst du. Vollkommenheit ist Tod. Unvollkommenheit ist Leben, bedeutet, dass du noch eine Zukunft hast, dass der morgige Tag aufregend sein wird.«
Der Vollkommenheit stellt er positiv die Totalität gegenüber. Wer vollkommen sein wolle, richte sich nach einem Ideal, nach einem Vorbild.
Er sagt: »Totalität kommt aus dir. Vollkommenheit ist geborgt – das ist der grundsätzliche Unterschied«.
Und er fordert: »Sei in jedem Augenblick total. Wenn du unvollkommen bist, dann sei total unvollkommen. Wenn du traurig bist, dann lebe die Traurigkeit total aus. Schreie! Weine! Lass Tränen fließen! Wirf dein Herz in die Traurigkeit! Hab keine Angst! Schäme dich nicht! Wenn du das kannst, dann wächst du innerlich, ruhst du in dir selbst; nur dann kannst du auch wirklich fröhlich sein«!
Bhagwan vergleicht Buddha mit Jesus. Buddha – als Prinz in einem Palast aufgewachsen – spreche eine hochgestochene, kultivierte Sprache, Jesus, der Tischlersohn, spreche die rauhe Sprache der Handwerker und Fischer, der Bauern und Prostituierten. Nur wenige könnten Buddha verstehen. Jesus aber verstünden alle. Während sich die Armen in der Dritten Welt mehr zu Jesus hingezogen fühlten, erlebte der Buddhismus im reichen Westen, besonders in Amerika, eine Renaissance. Die arme Welt werde christlich, die reiche Welt werde buddhistisch.
Einige Sannyasins strecken sich ungeniert aus und dösen. Das scheint erlaubt zu sein. Nur schnarchen dürfen sie wohl nicht. Nach anderthalb Stunden sagt Bhagwan; »Genug für heute«. Er erhebt sich, faltet wieder die Hände vor dem Gesicht, dreht sich im Halbkreis, lächelt. Ebenso lautlos, wie er gekommen ist, verschwindet er wieder in seiner Villa.
Irgendwo schluchzt eine Frau. Einige Sannyasins vergraben das Gesicht zwischen den Knien und weinen lautlos. Überall liegen Pärchen in enger Umarmung auf dem Boden. Während der rothaarige Chefleibwächter und sein Kollege den Sessel abräumen, knien einige Sannyasins vor dem Podest nieder, beugen sich vor, strecken die Arme aus und berühren die Stelle, wo der Meister gesessen hat, mit der Stirn. Ich habe den Eindruck, unter Patienten zu sein, unter Unglücklichen, Geplagten, Gehetzten. Langsam leert sich das Auditorium.
Arup begleitet uns auf einem Spaziergang durch den Aschram. Wo ich meditative Stille und Abgeschiedenheit vermutet hatte, herrscht lärmvolle Betriebsamkeit. In der Buddhahalle feuert eine energische Blondine, die wie eine Heroine aus den nordischen Heldensagen wirkt, mehr als hundert Sannyasins zu Chorgesang und Ringelreihen an. »Sufi dance« wird das genannt. Erinnert mich eher an alpine Folklore.
In einem Großraumbüro sitzen junge Mädchen hinter Schreibmaschinen und erledigen eine weltweite Korrespondenz. Es gibt in der westlichen Welt etwa 40.000 Sannyasins.
Bhagwan-Zitate:
»Und natürlich: wenn du gewalttätig zu anderen warst, dann können die anderen auch gewalttätig zu dir sein. Sie warten nur auf den geeigneten Augenblick. Je reicher du bist, desto mehr Angst hast du«.
»Ich widerspreche mir selbst andauernd. Ich werde dir nicht erlauben, von mir beeindruckt zu sein. Wenn du heute von mir fasziniert bist, dann kannst du morgen von einem anderen fasziniert sein. So gehen viele von einem Meister zum anderen. Du brauchst nicht von mir fortzulaufen, denn ich verkörpere alle Meister in einer Person. Ich zeige dir alle Wege und überlasse dir die Entscheidung. Das ist meine Methode«.
Bhagwan-Lektüre bis Mitternacht. Dieser Inder ist eine Offenbarung. Manches ist mir nicht neu, aber ich habe es noch nirgendwo so frisch und konsequent formuliert gefunden.
Warum lässt er es zu, dass mit ihm ein solches Theater veranstaltet wird? Ob das seine Idee ist, dass sein Sessel nur mit weißen Handschuhen angefasst werden darf? Und dann diese groteske Abriecherei!
Poona, 30.Juni
Große Verwirrung! Heute Nachmittag nehme ich an der so genannten »Kundalini«-Meditation im Radha-Auditorium teil. Über Lautsprecher kommt Musik mit kurzem Rhythmus. Ich tanze, schüttele mich, mit geschlossenen Augen. Plötzlich habe ich eine Vision. Vor mir ist eine weiße Marmor-Freitreppe, die sich in einem durchsichtig blauen Himmel verliert. Im unteren Drittel wird die in helles Licht getauchte Treppe von einer Terrasse unterbrochen. Dort sitzt Bhagwan in seinem Sessel, beugt sich zu mir vor und lächelt einladend!
Ich tanze auf der Stelle mit zurückgeworfenem Kopf, breite die Arme aus und höre, wie meine innere Stimme ruft:«Bhagwan, ich bin auf dem Weg«!
Gleichzeitig läuft in meinem Kopf ein anderer Film ab, in dem ich als Beobachter meiner selbst auftrete. Und ich denke: » Was ist denn jetzt los? Das darf doch nicht wahr sein! Ein Kitschpostkarten-Erlebnis! »
Aber nun breitet auch Bhagwan die Arme aus. Und gerade, als ich das Gefühl habe, zu ihm hinaufgezogen zu werden, reißt die Vision ab.
Ich bin ziemlich verunsichert. Freude und Angst sind im Widerstreit. Wenn so was möglich ist – auf was muss ich mich dann noch gefasst machen? Für einen Augenblick kommt mir die Idee, die Reportage abzubrechen. Wie soll ich diese Geschichte dem STERN verkaufen? Ich könnte mich natürlich über den Aschram lustig machen. Aber dagegen sträubt sich etwas in mir.
Mit Schnoddrigkeit ist dieser Bhagwan nicht zu fassen. Er ist der intelligenteste Mensch, der mir je begegnet ist. Ist er ein Scharlatan?
Swami Prasad, ein Psychologe aus Berlin, kümmert sich um uns. Auf die Frage, was ein Erleuchteter Meister sei, meint er, Erleuchtung sei ein gehobener Wachzustand. Wir normalen Menschen seien nicht fähig, die Realität, die uns umgibt, so zu sehen, wie sie wirklich ist.
»In der Nacht träumen wir mit geschlossenen Augen«, sagt Prasad, »und am Tage mit offenen Augen. Wenn die Wirklichkeit eine Leinwand ist, dann sehen wir immer nur unsere auf die Leinwand projizierten Wünsche. Wir sehen nie die Leinwand, sondern immer nur den Film unserer Hoffnungen, Wünsche, Erwartungen. Ein Erleuchteter ist einer, der die Leinwand sieht, einer, der keine Wünsche, Hoffnungen, Erwartungen mehr hat. Er lebt in der Realität. Er sitzt nicht dauernd im Kino«.
Es gebe viele Erleuchtete, meint Prasad, aber nur ganz wenige Erleuchtete Meister, das heißt solche, die es sich zur Aufgabe gemacht hätten, andere Menschen aus ihren Träumen aufzurütteln und sie in Einklang mit der Wirklichkeit, mit der Wahrheit zu bringen.
Am nächsten Morgen eine große Lecture! Die Menschheit, sagte Bhagwan, trete gerade aus dem Stadium der Kindheit ins Jugendalter ein. Die Religionen, die der Kindheit angemessen seien, die das Prinzip der Strafe und Belohnung haben, verschwänden. Diese Religionen hätten in den Menschen Angst vor der Hölle, vor der Strafe und Gier auf das Paradies, auf Wiederauferstehung erzeugt. Die Menschheit brauche diese Art von Religionen nicht mehr. Sie befände sich in einer Zeit neuerlichen Heidentums.
Aber Tantra, Tao, Zen, Sufismus, Chassidismus seien schon auf dem Vormarsch.
Die organisierten Religionen seien nicht die wirklichen Religionen. Bhagwan: »Religion kommt immer in Form von Rebellion, das ist schon immer so gewesen. Die Zeit des Christentums, des Hinduismus, des Islam ist vorbei. Religionen werden verschwinden – es wird nur noch Religiosität geben. Die Menschen werden sich die Art ihrer Gebete selbst aussuchen«.
»Nur Feiglinge scharen sich um eine tote Religion. Sie beten die Heiligen Schriften an, die Statuen, die Bilder, die Worte – alles tote Dinge. Religion lebt nur, solange ein lebender Meister sie dir vorlebt. Aber die Menschen haben Angst, wenn sie einem Meister begegnen, einem Jesus, einem Buddha, einem Mohammed. Sie verdammen die wirklichen Meister sogar. Warum? Weil der wirkliche Meister nicht deine Feigheit und deine Gier unterstützt…«
»Die Leute, die Jesus gefolgt sind, waren mutig. Du kannst sie an den Fingern abzählen. Diejenigen, die Buddha gefolgt sind, waren mutig. Aber die Christen sind nicht mutig, und die Buddhisten sind nicht mutig«.
Nur wer den Mut habe, ins Dunkle zu springen, ohne Karten in See zu stechen, mit der Vergangenheit zu brechen, um in eine ungesicherte Zukunft aufzubrechen, nur der sei ein religiöser Mensch.
Kann es möglich sein, dass Bhagwan sich auf eine Stufe mit Jesus und Buddha stellt?
Fieberhafte Aktivität im Aschram: Morgen wird »Gurupurnima« gefeiert, das Vollmondfest des Meisters mit seinen Jüngern. Tausende von Besuchern werden erwartet. Zur Linken des Haupteingangs ist in monatelanger Arbeit die neue »Buddhahalle« entstanden – ein ovaler Zementplafond mit einem von innen mit weißen Baumwollplanen bespannten Wellblechdach auf Holzpfosten. An den Seiten ist die Halle offen.
Swamis und Mas richten neue Beete her, bauen Verkaufsstände für Bhagwan-Literatur auf.
Bhagwan sagt, das Leben sei nur ein kurzes Zwischenspiel, in dem uns die Chance gegeben ist, zur Erleuchtung zu kommen – oder doch wenigstens der Erleuchtung näher zu kommen. In diesem Zusammenhang spielt der Tod eine besondere Rolle. Wenn du bewusst und in einem meditativen Zustand ins Jenseits zurückkehrst, dann kannst du mit dem Austritt aus deinem Körper zur Erleuchtung kommen. Das heißt, du gehst in das kosmische Bewusstsein ein und wirst nicht mehr wiedergeboren. Du befreist dich von dem. was die Hindus das <Rad von Tod und Wiedergeburt> nennen«.
Wiedergeburt halte ich für esoterischen Quatsch. Aber die Erleuchtungs-Idee leuchtet mir ein. In ihr steckt eine Dynamik in Richtung menschliches Wachstum. Ich glaube auch, dass ein Mensch, der in völliger Harmonie mit der Wirklichkeit lebt, keine Wünsche und keine Hoffnungen, keine Eifersucht und keine Gier kennt, eine ungeheure Kraftausstrahlung haben muss. Er verschwendet seine Energie nicht auf Irrwegen, vergeudet sie nicht in müßigen Leidenschaften.
Aber sind es nicht unsere Leidenschaften, unsere Hoffnungen und Wünsche, die uns in Bewegung halten? Bhagwan hat dafür heute früh in der Lecture den Satz geprägt: »Viel Tempo – kein Ziel.« Auch das leuchtet mir ein.
Mich beunruhigt der Gedanke, dass mein Wahrheitsfanatismus eine Selbsttäuschung ist, wenn ich als richtig unterstelle, dass Wahrheit nur dann wahrgenommen werden kann, wenn sie nicht durch Hoffnungen und Wünsche vernebelt wird. Ich sehe schon, dass sich Journalismus und geistig-religiöse Suche nicht miteinander vereinbaren lassen.
Mein Engagement für diese Reportage über Bhagwan fängt an, meiner Kontrolle zu entgleiten!
Poona, 3. Juli
Bhagwan hat entschieden, dass ich die sogenannte »Encounter« -Gruppe mitmachen soll.
»Das ist die härteste Gruppe«, sagt Prasad und legt mir den Arm um die Schulter, so als wolle er mich trösten. Eine halbe Stunde später geht die Gruppe los.
Oh, Mann, warum lasse ich mich auf so was ein?
Als ich am späten Vormittag in den Therapieraum komme, sind die anderen Gruppenteilnehmer schon versammelt – acht Mädchen und sieben junge Männer. Sie sitzen rundum auf den Matratzen, mit dem Rücken an die gepolsterten Wände gelehnt, starren mich schweigend an. Ich setze mich.
Der Raum ist etwa 16 Quadratmeter groß. Keine Fenster. Luft kommt durch einen Schlitz in der Decke. Links von der Tür hängt ein großes Bhagwan-Foto. Der Meister schaut uns ernst und durchdringend an.
»Encounter« heißt Begegnung. Ich begegne den Gruppenteilnehmern - Durchschnittsalter unter dreißig – zum ersten Mal. Sie sind alle Sannyasins, tragen Mala und Orange. Wir warten auf Teertha (sprich: Tirssa), den Gruppenleiter. Früher hieß er Paul Lowe. Er ist der Begründer des Londoner Psychotherapiezentrums »Quaesitor«. Es war das größte in Europa, wurde inzwischen aufgelöst.
Teertha betritt den Raum in einem langen, orangefarbenen Hüfttuch. Er ist groß, kräftig, blass. Wenn er lächelt, entblößt er ein Nagetiergebiss. Aufmerksame Augen, schulterlanges Haar. Der Bart reicht bis zur Brust. Er stellt seine Sandalen ab und nimmt auf einem flachen Kissen Platz. Er schaut in die Runde, blickt jedem einzelnen in die Augen. Ich habe den Eindruck, dass er mich etwas länger und prüfender anschaut als die anderen. Ich erwidere den Blick. Einschüchtern gilt nicht, Teertha!
Er gibt die Spielregeln bekannt: »In den nächsten sieben Tagen vegetarisch essen, kein Alkohol, keine Zigaretten, keine Drogen. Wenn es zu Schlägereien kommt, sind Angriffe auf den Gruppenleiter zu vermeiden. »Ich horche auf: Wieso Schlägereien?
Teertha fordert jeden dazu auf, zu sagen, welche Erwartungen er an die Gruppe hat. Neben mir sitzt, in sich zusammengesunken wie ein Häufchen Elend, eine magere Amerikanerin mit glatt rasiertem Kopf. Sie schaut Teertha mit hilflosem Blick an und schluchzt: »Ich kann nicht mehr! Ich bin am Ende. Ich habe mir die Haare abrasiert, weil ich mich selbst hasse«.
Teertha hört ungerührt zu.
Ich sage: »Ich fürchte, dass ich als Beobachter hier in Schwierigkeiten kommen werde«.
Mein Nachbar zur Rechten, ein kräftiger Junge mit naivem Blick, Konditor aus Kansas City, USA, sagt: »Ich möchte mich selbst finden«.
So geht es reihum. Teertha stellt die nächste Aufgabe: Jeder soll in die Runde schauen, andere fixieren und mit einem Stichwort sagen, was ihm einfällt.
Der Konditor schaut mich an und sagt: »Bügelfalte«.
Ich schaue einen jungen Swami an, der wie «Che« Guevara aussieht und mit dem Gesichtsausdruck eines ärgerlichen Verschwörers vor sich hinbrütet. »Zorn«, sage ich. Der Typ sieht wirklich gemeingefährlich aus.
Das Stichwort ist kaum heraus, als eine kräftige, rothaarige Amerikanerin aufspringt und sich mit dem Schlachtruf »du mieser Zuhälter«! auf »Che« Guevara stürzt. Der kann – bleich vor Schreck – gerade noch ihren ersten Schlag abwehren und sich in eine Ecke in Deckung bringen. Aber die »Rote«, das hübsche Gesicht hassverzerrt, krallt sich in seinen Haaren fest, zerrt ihn in die Mitte des Raumes, tritt, beißt, kratzt.
Mitten im Kampf reißt sie sich das Kleid vom Leib. Che hat sein Hüfttuch längst verloren. Er holt aus und schlägt der Roten voll in den Unterleib. Sie schreit auf, wälzt sich am Boden. Im gleichen Augenblick springen zwei weitere Amerikanerinnen auf, stürzen sich auf Che, bringen ihn zu Fall. Eine kleine Deutsche aus Reutlingen fliegt im Hechtsprung auf ihn.
»Arschloch, blödes«! schreit sie auf schwäbisch.
Ich drücke mich an die Wand und begreife, warum gepolsterte Wände hier ein »Muss« sind.
Che liegt am Boden. Die Reutlingerin und zwei Amerikanerinnen liegen auf ihm. Die dritte Amerikanerin – dick, hässlich, hasserfüllt – tritt ihm ins Gesicht.
Che schreit auf: »Stop it! Hört auf«!
Die Mädchen lassen von ihm ab. Die Rote aus New York tritt dem reglos am Boden Liegenden noch einmal in den Hintern und zischt: »Schwanzlutscher, mieser! », dann setzt sie sich wieder auf ihren Platz.
Che wimmert und bleibt liegen. Hinter seiner bedrohlich wirkenden Maske verbirgt er viel Angst und Schwäche. Homosexueller. Hassen ihn die Frauen deswegen?
Stille. Schweigen. Alle sitzen da, starren vor sich hin, schauen manchmal verstohlen auf. Teertha rührt sich nicht. Plötzlich ein lang gezogener Schrei, ein Schrei, der nicht aufhören will, der durch die Ritze der Klimaanlage dringt, atemlos, wahnsinnig. Ich erstarre. Der Schrei kommt aus einem anderen Therapieraum. Ich denke an Gestapo, an Folterkeller.
Der junge Konditor aus Kansas City springt auf. »Ich möchte kämpfen«, sagt er zu Teertha. Der kramt gleichmütig Boxhandschuhe aus einem Sack hervor, wirft dem Konditor ein Paar zu, das andere Paar landet vor den Füßen eines kräftigen, gutaussehenden Argentiniers. Der steht missmutig auf, streift die Handschuhe über, hat keine Lust.
Der Konditor geht wie ein Wahnsinniger auf ihn los. Das Leder der Handschuhe klatscht stumpf auf nackte Haut. Schweres Atmen, Schweißgeruch. Die Mädchen ziehen die Knie an die Brust, beobachten den Kampf mit gieriger Sensationslust. Ich merke, dass mir langsam schlecht wird. Woher kommt diese Aggressivität, dieser Hass?
Der Argentinier ist eindeutig überlegen, aber er nutzt seine Kraft nicht voll aus. Aggressionshemmung. Teertha ist unzufrieden.
»Schlag zu! Feigling«! brüllt er. Aber der Argentinier geht keuchend und lustlos in den Clinch. Der Konditor bricht den Kampf ab, schaut sich in der Runde um, kommt auf mich zu und fragt: »Willst du«?
Ich spüre, wie mein Puls schneller wird. Seit meiner Internatszeit war ich in keine Schlägerei mehr verwickelt, habe einen Widerwillen gegen physische Gewaltanwendung. Aber nun stehe ich ganz mechanisch auf. Der Argentinier wirft mir seine Handschuhe zu. Alle starren mich an. Die kleine Reutlingerin zurrt mir die Schnürung fest. Ich zwinge mich dazu, einen gleichmütigen Eindruck zu machen. Versuche, ein paar Techniken zu erinnern, die ich vor 35 Jahren beim Boxunterricht auf der Schule gelernt habe. Ich bin hellwach. Die Übelkeit ist verschwunden.
Der Konditor kommt langsam auf mich zu, die Fäuste schützend vor dem Gesicht. In diesem Augenblick brennt bei mir eine Sicherung durch. Ich gehe mit entfesselter Wut auf ihn los, spüre, wie mir große Kraft zuwächst, empfinde eine triumphierende Genugtuung, als mir einige Treffer gelingen.
Auch ich stecke Schläge ein. Für einen Augenblick wird mir schwarz vor den Augen, sehe ich Funken, werde schwindelig. Dann sehe ich, dass der Konditor blutet. Ich bin total erschöpft, mein Herz rast, der Atem fliegt, aber ich raffe mich noch einmal zu einem Angriff auf. Der Junge aus Kansas City verbirgt den Kopf zwischen seinen Armen, duckt ab, wehrt sich nicht mehr. Der Kampf ist zu Ende. Der blonde Amerikaner richtet sich auf, geht zu Teertha, umarmt ihn, schluchzt.
Ich könnte sein Vater sein, empfinde Mitgefühl, zärtliche Sympathie, gehe auf ihn zu, umarme ihn, streichle seinen Kopf, drücke ihm einen Kuss auf die Schläfe.
Wir setzen uns wieder an die Wand. Aus einem Nachbarkeller kommt wieder kathartisches Geschrei. Bei uns herrscht Schweigen. Mein Atem geht immer noch schwer. Ich warte auf die nächste Sensation.
Teertha starrt eine kleine, hübsche Japanerin an, die mir gegenüber sitzt und bisher noch kein Wort gesagt, noch keine Miene verzogen hat. Offensichtlich versteht sie überhaupt nichts. Finster starrt sie vor sich hin, kontrolliert, verschlossen, furchtlos. Teertha behält sie unentwegt im Blick. Sie tut so, als ob sie es nicht bemerkt. Teertha holt aus und wirft ihr einen Boxhandschuh an den Kopf. Sie rührt sich nicht. Der zweite Handschuh fliegt und trifft. Keine Wirkung.
Da springt eine etwa 4O-jährige Amerikanerin auf, eine schöne, mütterliche Frau, und stürzt sich auf die Japanerin. Eine wüste Schlägerei beginnt. Die zierliche Japanerin kämpft mit wilder Entschlossenheit, bringt die körperlich weit überlegene Amerikanerin in arge Bedrängnis. Stumm und verbissen kämpfen sie fast eine Viertelstunde, bis sie beide gleichzeitig völlig entkräftet aufgeben.
Wir sitzen und schweigen. Der Japanerin entringt sich ein Schluchzer. Erschreckt schaut sie sich um, wie ein Kind, das bei einer Bösewichterei ertappt worden ist.
Teertha verteilt Aufgaben für die Mittagspause. Der kahlgeschorenen Amerikanerin befiehlt er: »Du läufst überall herum und erzählst allen, wie unglücklich du bist«. Zu Che sagt er: »Du findest dich hübsch und sexy und zeigst es«. Zu mir: »Du bist der Beobachter, weiter nichts«. Zu der hässlichen Amerikanerin, die Che so brutal ins Gesicht getreten hat: »Du bist zu allen liebenswürdig«.
Die »Liebenswürdige« wohnt, wie ich, im »Blue Diamond«-Hotel. Wir gehen zusammen zum Mittagessen. Sie gibt sich große Mühe, charmant zu sein. Wir sprechen über die Gruppe, über Bhagwan, den Aschram. Sie saugt zischend Speisereste aus den Zahnlücken. Ich traue ihr nicht.
Nach der Pause fragt Teertha, was wir erlebt hätten. Meine dicke Tischpartnerin berichtet, dass sie mit mir gegessen habe, und dass sie von mir angewidert gewesen sei. Ich hätte abfällig und arrogant über Bhagwan und die Gruppenmitglieder gesprochen.
Wenn die Gruppenmitglieder ihr das Märchen abnehmen, werden sie sich auf mich stürzen! Schon sind finstere Blicke auf mich gerichtet. Ich schaue die Dicke lange an und sage: »Könnte es sein, dass du deine eigenen kritischen Gedanken und Gefühle über Bhagwan und die Gruppe auf mich projizierst?« …
© Jörg Andrees Elten