Schade, dass die Bundeskanzlerin nicht mal herein schaut…

Betrachtungen zum 80sten Geburtstag

1927 war kein schlechter Jahrgang. So wurden z. B. Papst Benedikt XVI, Hans Dietrich Genscher, Martin Walser und Günter Grass - um nur einige zu nennen - in diesem Jahr geboren. Auch ich feierte meinen 80sten Geburtstag. Klar, dass es aus diesem Anlass keine Sondersendung im Fernsehen geben würde, kein Bundesverdienstkreuz und auch keinen  telefonischen Anruf der Kanzlerin. Aber Gitama meinte, dass der 80ste auch für mich ein würdiger Anlass wäre, mich von meinen Freunden feiern zu lassen.

Die Einladungsliste wurde immer länger - am Ende waren es 80 und es standen fast nur noch Freunde aus meinem zweiten Leben auf der Liste -  aus dem Leben, das nach der Begegnung mit Osho 1977 begonnen hat. Es ergab sich einfach so. Viele Weggefährten aus den alten Zeiten, in denen ich als Reporter die Welt entdeckte, heiratete, Kinder zeugte, Geld verdiente und Cocktailpartys besuchte, sind ja schon tot. Einige entschuldigten sich damit, dass sie sich von ihren Ärzten nicht so weit entfernen könnten. Und schließlich gab es auch solche, die man einfach nicht in die Nähe von Osho-Freunden bringen kann, ohne sie bis aufs Blut zu reizen oder - noch schlimmer - sie zu Tode zu langweilen.

In unserem Dorf Stellshagen beginnt jeder runde Geburtstag damit, dass die Dorfbewohner sich morgens vor der Tür des Jubilars oder der Jubilarin versammeln und schmissiges Liedgut zum Besten geben - zum Teil sogar eigens gedichtete Verse ("Gitama hat viele Rehe im Hof, das findet sie ganz furchtbar doof…"). Als die bewegende Darbietung mit dem Lied "Oh du schönes Mecklenburger Land" ausgeklungen war, gab es selbstgebackenen Kuchen, Sekt, Kaffee, Schnaps und Schinkenbrote. Es war eine herzbewegende Runde, die mir bewusst machte, dass wir "Wessies" endlich und wirklich in diesem "Ossie" - Dorf angekommen sind.

Kurze Mittagsrast und dann gingen die Vorbereitungen für das Familienessen am Abend in ihre Endphase. 22 Clan-Mitglieder waren aus drei Kontinenten angereist. Einige begegneten sich bei uns zum ersten Mal. Das entfesselt emotionale Energien, lässt Vergangenes aus dem Unterbewusstsein aufsteigen, weckt Erwartungen und Hoffnungen, schürt auch Ängste. Ich genoss die Rolle des Patriarchen, der jenseits von Gut und Böse Anspruch auf Schonung hat. Alle meine Lieben verzichteten jedenfalls taktvoll darauf, mich zur Zielscheibe ihrer Projektionen zu machen.

Als die lieben Verwandten sich in ihre Hotelbetten verzogen hatten, legte Gitama spät in der Nacht noch letzte Hand an eine Power Point Präsentation für die große Party am nächsten Abend:  Eine Bilder-Biografie. Ich schaute mir auf dem Bildschirm die Fotos an und staunte. War ich wirklich dieser Sechsjährige, der da am Wahlsonntag des 30. Januar 1933 vor Hakenkreuzfahnen den Arm zum Himmel reckte, so als wollte er den Führer begrüßen, der an diesem Tag nach der Macht griff? 80 Jahre sind wahrlich eine lange Zeit. Sie erstrecken sich nicht nur über Generationen, sondern über ganze Epochen, die den eigenen Kindern - von den Enkeln ganz zu schweigen - so fern sind, wie die Klassik der alten Griechen.

Und was ging im Kopf des Teenagers vor, der in der Uniform eines Napola-Jungmannhundertschaftsführers lässig vorgebeugt auf einer Mauer saß und mit einem Hauch von melancholischer Arroganz in die Kamera starrte? Fühlte er sich wohl in der Rolle einer zukünftigen Führungskraft des Tausendjährigen Deutschen Nazi-Reiches? Offenbar nicht! Wie hat er den unglaublichen disziplinarischen Druck einer an Sadismus grenzenden Eliteerziehung ausgehalten? Irgendwie hat er ohne ernste Blessuren überlebt.

Und wie hat er den Zusammenbruch des Tausendjährigen Reiches überstanden? Den Verlust des Vaters, der im Krieg geblieben war? Den Zusammenbruch aller Ideale? Die furchtbare Erkenntnis, dass es nichts mehr gab, das ihm Halt geben konnte - keine Kameradschaft mehr in der Gruppe, keine Berufung, keinen Stolz auf Vollbrachtes, keine Aussicht auf Anerkennung oder gar Förderung, keine Zukunft?

Merkwürdig, dass die Zeit des Zusammenbruchs in meiner Foto-Schau fehlt. So als sei damals die Uhr stehen geblieben. Der Krieg war verloren, Hitler war tot, Trümmer überall, die  Katastrophe war so überwältigend, dass sie zum Abstraktum wurde. Die Vergangenheit fror ein, verschwand vom Bildschirm, wurde einfach verdrängt. Die ganze Energie war darauf gerichtet, jeden Tag ein paar Kartoffeln auf den Tisch zu bringen und die Bude einigermaßen warm zu kriegen. Keine Vergangenheit mehr und keine Zukunft. Nur die unaufhörliche, kreative und totale Anstrengung, mit den Herausforderungen im Hier und Jetzt fertig zu werden. Es war eine der glücklichsten Zeiten meines Lebens.

Ich bin froh, dass ich sie erlebt habe, denn die Erfahrung hilft mir dabei, gelassen in die Zukunft zu sehen. Das ist das Schöne am Altwerden: Ich weiß ganz viel, weil ich ganz viel erlebt habe. Ich muss mich nicht auf Angelesenes beziehen. Ich spreche aus eigener Erfahrung. So weiß ich zum Beispiel, dass es in Zeiten äußerster Not mehr Lebendigkeit, mehr Liebe, mehr Freude, mehr Kreativität gibt, als in unseren fetten Jahren, die uns immer ängstlicher, immer roboterhafter und neurotischer machen. Und so weiß ich auch, dass wir keine Angst vor der Zukunft haben müssen.

Dabei hüte ich mich davor, in den Chor der Alten einzustimmen, die ständig die guten alten Zeiten preisen und das Hier und Jetzt grundsätzlich grauenhaft finden. Gar nicht so einfach, denn tatsächlich haben wir den Planeten in einem halben Jahrhundert furchtbar versaut. Die Welt ist nicht schöner geworden, aber natürlich ist sie immer noch schön. Zum Beispiel gleich hier bei uns um die Ecke. Wenn ich aufs Rad steige, bin ich in wenigen Minuten auf  idyllischen Pfaden, wo mir kein Mensch mehr begegnet. Ich bin genug in meinem Leben gereist, um zu wissen, dass man seine Konflikte, seine Sorgen, seine Ängste ständig in seinem Reisegepäck mitführt - auch wenn man an die Traumstrände Asiens fliegt. Es gibt kein Entrinnen nach dem Motto "Nichts wie weg, egal wohin!"

Das Glück ist nicht in der Ferne zu finden. Es ist zum Greifen nahe im Hier und Jetzt.

Die Begegnung mit Osho war das wichtigste und auch das glücklichste Ereignis in meinem Leben. Osho hat mich dazu gebracht, meine Vergangenheit mit allem drum und dran loszulassen. Das war eine riskante Befreiung. Sie war unabdingbar notwenig, um mich für Neues zu öffnen. Seither lebe und denke ich nicht mehr rückwärtsgewandt, sondern sehe die Welt immer wieder mit frischem Blick. Die Dynamik, die Osho 1977 bei mir angestoßen hat, belebt mich immer noch jeden Tag und hat unter anderem auch dazu geführt, dass ich meinen Weg in der Welt jenseits von Kommunestrukturen alleine gehe.

Je älter ich werde, desto mehr schätze ich die Tugend der Geduld. Bei Flaute versuche ich nicht, in mein Segel zu pusten, um Fahrt aufzunehmen. Ich kann entspannt warten, bis der Wind wieder bläst und mein Boot antreibt. In den späten 70er Jahren war ich von der Vorstellung besessen, ich müsste auf Vortragsreisen und in Talkshows dafür sorgen, dass Osho's Botschaft in der Welt verstanden wird. Inzwischen bin ich bescheidener geworden. Osho braucht keine Propagandisten. Seine Bücher verkaufen sich inzwischen millionenfach, obwohl er seiner Zeit immer noch um mindestens 50 Jahre voraus ist. Ich beschränke mich darauf, meine Lebenserfahrung in Seminaren an Menschen weiter zu geben, die sich verändern wollen. Dabei spielt das, was ich mit Osho gelernt habe, natürlich eine besondere Rolle. Und der Lernprozess geht ständig weiter, denn ich entdecke in Oshos Botschaften immer neue Aspekte und tiefere Schichten.

Vielleicht kommt es daher, dass ich mir einbilde, erst am Anfang zu stehen. Keine herbstliche Stimmung, sondern eher Frühlingsgefühle. Es ist so, als hätte das richtige Leben gerade erst begonnen. Veränderung liegt in der Luft. Jeden Tag. Immer wieder. Und ich bin neugierig auf das, was kommt.

Der 80ste Geburtstag ist gewöhnlich ein Anlass, Bilanz zu ziehen. Der Papst, Walser, Grass und Genscher können auf ein Lebenswerk verweisen, das allgemein hoch gelobt wird. Da backe ich ein vergleichsweise kleines Brötchen. Zum Medienstar habe ich es nicht gebracht. Schade eigentlich, denn ehrlich gesagt fände ich es gar nicht schlecht, wenn die Bundeskanzlerin mal auf eine Tasse Tee bei mir vorbei käme, damit ich mit ihr ein paar wichtige Einsichten schären kann.