Wo die Angst regiert bricht der Wahnsinn aus

Der Holocaust stürzt deutsche Soldaten im Nahen Osten in Konflikte

September 2006

Der alte Herr aus Boston/USA war nach Deutschland gekommen, um für sein Buch zu recherchieren. Eine gemeinsame Bekannte hatte uns zusammengebracht, und nun saß er vor mir und stellte vorsichtig und taktvoll Fragen zu dem Thema "Wie haben die Deutschen 60 Jahre nach Auschwitz den Holocaust verarbeitet?"

Ich fürchte, dass es vielen Deutschen so geht, wie unserem Nobelpreisträger Günter Grass. Überwältigt von der unfassbaren Ungeheuerlichkeit des Verbrechens haben sie es verdrängt.

Je länger ich mich mit dem Besucher aus Amerika unterhielt, desto deutlicher spürte ich seine Verunsicherung. Oder war es sogar Angst? Irgendwann im Laufe des Gesprächs beugte er sich vor, schaute mich mit großen Augen an und fragte: "Können Sie sich vorstellen, dass so was noch mal passiert?"  Darüber hatte ich oft nachgedacht. "Wenn die Angst der Menschen systematisch geschürt wird", sagte ich "und es zu einer kollektiven Angstpsychose kommt, ist alles möglich. Und nicht nur bei uns in Deutschland."

"Wie meinen Sie das?" fragte er entsetzt. Ich antwortete mit einer Gegenfrage: "Ist es nicht so, dass G.W. Bush die Angst vor dem Terror systematisch schürt, um das Volk davon abzulenken, dass seine Freiheiten Zug um Zug demontiert werden?"

Das konnte mein Gesprächspartner aus eigener Erfahrung bestätigen. Und so spekulierten wir darüber, was wohl in den USA passieren würde, wenn ein Atomsprengsatz in der U-Bahn von New York City hoch ginge. Was würde mit den Moslems in den USA geschehen? Würde man sie durch die Straßen jagen? Kämen sie ins KZ?

Der Holocaust war die deutsche Variante des Massenmords  - bürokratisch perfekt organisiert, wie eine Insektenvernichtungsaktion. Deutsche Gründlichkeit im Dienst der Menschenverachtung. Mit dieser Schande müssen wir leben. Aber der Holocaust lehrt uns auch dies: Wo immer die Angst regiert, bricht der Wahnsinn aus. Wer Angst hat, ist manipulierbar. Kein Volk ist gegen Manipulationen gefeit. Und schlimmer noch: Fanatismus, Grausamkeit, Hass auf Minderheiten, Habgier und sadistische Mordlust schlummern in fast allen Menschen und sind seit Jahrtausenden die hauptsächlichen Antriebsenergien der menschlichen Geschichte.

Empörung über den Holocaust ist berechtigt, aber öffentlich verordnete Schuldgefühle bringen uns überhaupt nicht weiter. Im Gegenteil. Sie werden nur allzu gern politisch missbraucht und sie lenken ab vom Kern des Problems - der menschlichen Unbewusstheit. Die Politik kann das Bewusstsein der Menschen nicht verändern. Aber das Bewusstsein der Menschen kann die Politik verändern. Das ist die eigentliche Herausforderung.

Und wie ist es mit den jungen Deutschen? Sie haben Hitler nicht an die Macht gewählt. Sie fühlen sich persönlich nicht schuldig und folglich gibt es für sie keine Tabus. Sie vergleichen den Holocaust mit den Gräueln in Stalins sibirischen KZ's, mit den Massenmorden in Mao's Rotchina und mit dem amerikanischen Atombombenangriff  auf  Hiroshima und Nagasaki. Und sie sind nicht bereit, alles gut zu heißen, was die israelische Regierung tut. Israels Krieg gegen den Libanon zum Beispiel, der militärisch total schief gelaufen ist und auch politisch für Israel eine Katastrophe war, hat viele junge Deutsche gegen Israel aufgebracht.

Charlotte Knobloch, die Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland und Holocaust Überlebende, ist mit Recht besorgt: sie spürt die anti-israelische Stimmung und fürchtet Antisemitismus. Aber sie reagiert nicht persönlich, sondern politisch und wirft z. B. der Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul vor, dass sie sich aus Opportunismus der "Anti-Stimmung gegen Juden und den Staat Israel" angeschlossen habe.

Das ist das typische Reaktionsmuster der jüdischen Lobby: Kritik an der israelischen Regierungspolitik wird routinemäßig als "Antisemitismus" angeprangert. Die Menschen spüren die Unehrlichkeit, die dahinter steckt und sind verstimmt, um es milde zu sagen. Frau Wieczorek-Zeul hatte lediglich beklagt, dass die israelische Luftwaffe im Libanon international geächtete Streubomben eingesetzt hat. Diese tückische Waffe tötet flächendeckend und hinterlässt viele Blindgänger, die noch lange nach dem Krieg spielende Kinder gefährden und Wiederaufbauarbeiten behindern.

Sechzig Jahre nach dem Holocaust brauchen wir in Deutschland im Umgang mit unseren jüdischen Mitbürgern keine Heuchelei, sondern Offenheit. Vielleicht erkennen wir dann auch, dass eine ehrliche Auseinandersetzung mit den Ursachen menschlicher Mordlust heute wichtiger ist, als je zuvor. Denn der "Nazi" ist kein nationales Phänomen, sondern ein Trojanisches Pferd im menschlichen Betriebssystem.

Wenn wir uns nicht in aufmerksamer Selbstbeobachtung üben, kann der Nazi in uns jederzeit zuschlagen. Wir müssen nur - freiwillig oder zwangsweise - in ein extrem gewalttätiges Milieu geraten. Die Mentalität, die zum Holocaust geführt hat, kann nur überwunden werden, wenn viele Menschen im Hier und Jetzt ihr Denken und Handeln immer wieder in Frage stellen. Masken ablegen, ehrlich mit sich selbst sind, ihr Ego abbauen, Ängste überwinden und einen inneren Kern bilden, um sich gegen Manipulationen aller Art zu immunisieren. Die Herausforderung ist aktueller denn je.

Denn sechzig Jahre nach Auschwitz hat die Bundesregierung auf dringenden Wunsch Israels beschlossen, junge deutsche Soldaten an die Front des israelisch-arabischen Konflikts zu schicken. Sie sollen der Hesbollah den Waffennachschub über das Meer abschneiden. Charlotte Knobloch sieht die Situation ganz richtig. "Interessant", sagt sie, "dass deutsche Soldaten Israel beschützen werden." Tatsächlich ist es so, dass die Bundesrepublik als Bundesgenosse Israels in einen Krieg eintritt, der seit Jahrzehnten die ganze Welt in Atem hält. Sobald deutsche Marine-Fregatten vor der libanesischen Küste kreuzen, werden wir in der ganzen arabischen Welt als Feinde wahrgenommen werden. Unsere unter der Regierung Schröder/Fischer gepflegte Vermittlerrolle zwischen Arabern und Juden ist beendet.
Der Kern des Konflikts besteht darin, dass Israel nach dem Sieg im sogenannten Sechstagekrieg 1967 damit begonnen hat, auf palästinensischem Boden und auf den syrischen Golanhöhen Wehrdörfer zu errichten. Inzwischen leben mehr als 250 000 Juden auf arabischem Land. Die Besiedlung ist völkerrechtswidrig und wurde wiederholt vom UNO-Sicherheitsrat verurteilt. Aber sie geht weiter. Die Palästinenser sind im Aufstand. Die Syrer unterstützen die Hesbollah, die vom Iran mit Waffen versorgt wird. Der Iran ist wahrscheinlich im Begriff, die Atombombe zu bauen.

Je länger der Konflikt  dauert, desto gefährlicher wird er, denn er radikalisiert die arabische Straße, befeuert den islamischen Terrorismus und er schwächt Israel und die pro-westlichen Kräfte im Nahen Osten, wo zwei Drittel der bekannten Erdölvorräte der Welt lagern. Wenn die arabischen Ölfelder in Flammen aufgehen oder in die falschen Hände geraten sollten, kracht die Weltwirtschaft zusammen.

Der Einsatz der Bundeswehr im Nahen Osten wird als Friedensmission verkauft. Aber ein Frieden zeichnet sich überhaupt nicht ab. Solange Israel als Vorposten des amerikanischen Imperiums agiert und sein Überleben durch Abschottung und militärische Einschüchterung sichert, wird es zu keinem jüdisch-arabischen Dialog kommen.

Auch wenn uns die Israelis näher sein mögen, können wir nicht behaupten, dass der Kampf zwischen Israel und seinen Gegnern ein Kampf zwischen Gut und Böse ist. Beide sind Täter und Opfer zugleich. Auf  beiden Seiten regieren Angst und Gewalt. Auf beiden Seiten sind diejenigen in der Minderheit, die für kompromissbereite Verständigung eintreten. Inzwischen ist der Hass zwischen Arabern und Juden so groß, dass ein gerechter und dauerhafter Friede nur noch möglich erscheint, wenn er den Kriegsparteien von den Großmächten der Welt aufgezwungen wird. Das war bisher nicht möglich.

Die Kräfte sind ungleich verteilt. Israel hat die Atombombe und seine Gegner haben sie nicht. Israels Armee wird von den USA mit modernsten Waffen im Wert von jährlich mehr als einer Milliarde Dollar ausgerüstet. Auf der anderen Seite erhält die "Hesbollah" vom Iran moderne Panzerabwehrraketen und Mittelstreckenraketen mit geringer Treffsicherheit. Die Palästinenser kämpfen mit selbstgemachten Miniraketen. Die einzig wirksame Waffe, die sie der israelischen Überlegenheit entgegensetzen können, sind Selbstmordattentäter.

Die jungen Soldaten der Bundeswehr haben den Auftrag, notfalls von der Waffe Gebrauch zu machen. Niemand kann voraus sagen, wie gefährlich es für sie werden wird. Sicher ist nur, dass sie mit einem inneren Konflikt in diesen Einsatz gehen. Denn als Erben der Nazi-Generation stehen im Schatten des Holocaust. Man erwartet von ihnen, dass sie ohne Wenn und Aber auf der Seite Israels stehen. Andererseits sollen sie aus dem Holocaust lernen. Das heißt praktisch: Unrecht bekämpfen, ganz gleich wo es geschieht und von wem es begangen wird. Kein blinder Gehorsam mehr. Die eigene Meinung sagen, auch wenn es riskant ist. Die Verantwortung für das eigene Denken und Handeln übernehmen. Für Gerechtigkeit eintreten - ohne Wenn und Aber.

Der Einsatz deutscher Soldaten im Nahen Ost wäre nur sinnvoll, wenn er eine energische und nachhaltige Friedensinitiative der Vereinigten Staaten und Europas militärisch unterstützt. Sowohl Israelis wie Palästinenser müssten über ihren Schatten springen und massive Kompromisse machen. Im Grunde geht es um die Überwindung der Angst und um das Vertrauen, dass Liebe und Solidarität am Ende stärker sein können, als Hass und Gewalt.